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Die Zukunft evangelischer Konfessionen[1]

 

Michael Beintker

 

1. Sind wir unersetzbar?

Das Nachdenken über die Zukunft der evangelischen Konfessionen hat sich heute eher mit den eigenen Selbstzweifeln auseinanderzusetzen als mit der Anfälligkeit für ein exklusives evangelisches Sendungsbewußtsein. Die Zeiten sind wohl vorbei, in denen sich die Protestanten ihres Protestantismus allzu gewiß waren und temperamentvoll ihre Überlegenheitsgefühle gegenüber Katholiken oder Orthodoxen pflegten. Das „Ein feste Burg ist unser Gott“ wird deutlich verhaltener intoniert als in früheren Jahrzehnten, und zu Reformationsfeierlichkeiten kann man auch einen katholischen Bischof auf die evangelische Kanzel bitten, um sich von ihm sagen zu lassen, was er von der evangelischen Kirche erwartet. Der Selbstzweifel scheint so etwas wie ein protestantisches Prinzip geworden zu sein. Als im vergangenen April die Welt von einem zweifellos großen Papst Abschied nahm, haben nicht wenige evangelische Christen im Stillen die große römische Kirche beneidet – beneidet um die Kunst der Darstellung und ausgefeilten Inszenierung, um die sakrale Regie und den erstaunlichen Mut zur eigenen Tradition, beneidet auch um den Zulauf der Menschen und der Medien zu dieser, wie nicht ohne Stolz mitgeteilt wurde, bisher größten Beisetzungsfeier der Weltgeschichte.

            Wozu sind wir da? Ist die evangelische Stimme im Chor der Christenheit noch vernehmbar? Oder zugespitzter gefragt: Sind wir unersetzbar? Diese Frage beschäftigt mich, seit ich sie gehört habe – im Jahr 1987 auf der Vollversammlung der Leuenberger Kirchengemeinschaft in Straßburg. Es war der Prager Theologe Pavel Filipi, der diese Frage in seinem Hauptvortrag über die Aufgaben des Gesprächs der reformatorischen Kirchen heute aufgeworfen hatte[2]. Das Gespenst dieser Frage, so führte Filipi damals aus, scheine in der reformatorischen Christenheit herumzulaufen und für erhebliche Verunsicherung zu sorgen[3]. Die reformatorischen Kirchen spielten in der ökumenischen Bewegung, aber auch im Leben der heutigen Menschheit anscheinend eine immer geringere Rolle. Es gebe den Eindruck, nach dem das Anliegen der Reformation überholt sei und von anderen, so z.B. von der Kirche Roms, übernommen werden könne. Die Kirchen der Reformation hätten ihre Rolle weitgehend zu Ende gespielt und könnten getrost absterben. Die Reformation sei eine – damals historisch notwendige – Episode gewesen, so gab Filipi diese Auffassung wieder, „um einen Protest gegen die spätmittelalterlichen Deformationen einzulegen, aber ein Protest dürfe keine Dauerbasis für die geschichtliche Existenz der Kirche bilden“. Das reformatorische „ecclesia semper reformanda“ sei schließlich kein evangelisches Sondergut und impliziere notwendig die Bereitschaft, sich eines Besseren belehren zu lassen und die eigene Sonderexistenz aufzugeben. Die Reformation habe verständlicherweise ihre ganze Aufmerksamkeit auf das Wort konzentriert, heute aber zeige sich, daß das Wort das schwächste und unglaubwürdigste Kommunikationsmittel ist. Für viele sei die römisch-katholische Kirche mit ihrem umfassenden Apparat der Gnadenmittel besser gerüstet, die Zeitgenossen für den Glauben an Christus zu gewinnen. Aber Filipi blickte nicht nur in Richtung Rom: Auch die Pfingst- und charismatischen Bewegungen, „die das Wort der Bibel in der persönlichen Erfahrung verifiziert wissen wollen“, sowie die sozialethisch engagierten Basisgruppen und -gemeinden seien für die Menschen attraktiver als die etablierten reformatorischen Kirchen.

            Die evangelischen Kirchen im Schatten liturgisch untermalter römischer Organisationskunst einerseits und kraftvoller, charismatischer Vitalität andererseits: damit hatte Filipi eine bestimmte, quer durch die Konfessionen laufende Auffassung zeichnen wollen. Die Zeichnung entsprach keineswegs seiner eigenen Meinung, handelte es sich doch dabei um die Skizze jenes Gespenstes, das er mit der Frage, ob wir unersetzbar seien, unter uns umgehen sah. Ich darf vermuten, daß auch hinter der Wahl des mir gestellten Themas jenes Gespenst einer denkbaren Selbstverflüchtigung und Selbsterübrigung des reformatorischen Christentums herumgeistert und daß von mir erwartet wird, ich möge dazu beherzt und kritisch Stellung nehmen.

            Einfache Antworten, so wünschbar sie sein mögen, werden freilich der Sachlage nicht gerecht. Man könnte immerhin fragen, wie man wieder zu stabilerem Konfessionsbewußtsein findet. Das Problem besteht darin, daß wir den Mangel an Selbstvertrauen nicht durch die Entwicklung von Strategien kompensieren können, die den Selbstzweifeln durch die Produktion von Selbstsicherheit beikommen möchten. Die Frage, ob wir unersetzbar seien, läßt sich nicht so beantworten, daß wir einfach den trotzigen Gegenbeweis unserer Unersetzbarkeit antreten. Das wäre, auch wenn es nicht zwangsläufig zur Selbstübersteigerung und damit zum wenig schätzenswerten Konfessionalismus führen würde, auf alle Fälle eine Form der Selbstrechtfertigung. Aber Selbstrechtfertigung wäre genau das, was einer evangelischen Kirche denkbar schlecht anstünde. Die Kirche – jede Kirche – lebt von der auf sie zukommenden Gnade des Herrn, der sie für seinen Auftrag gewinnen und in Anspruch nehmen möchte. Filipi meinte, daß die Reformation dieses Verwiesensein auf die auf sie zukommende Gnade und damit die Freiheit von den Zwängen des Bestehenden in besonderer Weise unterstrichen hätte und daß schon in dem ständigen Hinweis darauf ein wichtiger Beitrag zum Leben der heutigen Christenheit und Menschheit bestünde[4]. In diesem Beitrag, und nur in ihm, seien wir, seien die reformatorischen Kirchen unersetzbar. Und dann bildete er einen höchst markanten Aphorismus: „Wir sind insofern unersetzbar, als wir bereit sind, an unserer Unersetzbarkeit nicht festzuhalten“[5].

            Bei Karl Kraus kann man lesen: „Der längste Atem gehört zum Aphorismus.“[6] Auch Filipis Aphorismus verrät einen langen Atem, nämlich den seiner Heimatkirche, der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder. Es war der lange Atem, mit dem ein Johann Amos Comenius „das Sterben seiner eigenen geliebten Kirche, der alten Brüderunität, vorauszusagen und zu beobachten hatte“[7]. Seine Sorge und sein Wunsch dabei sei es gewesen, „daß das Erbe dieser Unität an andere christliche Unitäten, einschließlich der römischen, übergehe und dort rezipiert und weiterentwickelt werde“[8]. Anders als mit diesem langen Atem und vermutlich auch mit einer gehörigen Portion böhmischer Dialektik kann man an unser Thema nicht herantreten. Filipi hat damals seine Aufgabe so gelöst, daß er konkrete Herausforderungen benannte, vor denen die reformatorischen Kirchen am Ende des 20. Jahrhunderts stünden. Ich schlage einen etwas anderen Weg ein als er. Aber das Ergebnis wird das gleiche sein: ein tieferes Verständnis jenes schönen böhmisch-dialektischen Aphorismus, nach dem die reformatorischen Kirchen insofern unersetzbar sind, als sie bereit sind, an ihrer Unersetzbarkeit nicht festzuhalten.

 

2. Fragehorizonte

Die Frage nach der Zukunft von Konfessionen kennt verschiedene Horizonte des Fragens. Man kann sie zunächst empirisch angehen, indem man Trends und Entwicklungen verfolgt und analysiert. Das ist der Weg, der mit den großen Mitgliedschaftsstudien der EKD beschritten wird. Diese dienen genaugenommen dem besseren Verständnis der jeweiligen Gegenwart. Die daraus ableitbaren Prognosen bleiben hypothetisch. Die Tatsache, daß die Befragungen im Abstand von zehn Jahren wiederholt werden, bedeutet, daß man auf solche Mitgliedschaftsstudien keine Langzeitplanungen stützen kann. Auf empirischen Wegen lassen sich keine verläßlichen Aussagen über die Zukunft der evangelischen Konfessionen gewinnen.

Kommt man weiter, indem man geschichtliche Abläufe und Verläufe studiert und daraus Hypothesen über künftige Entwicklungen bildet? Man kann mit Hilfe der Kirchenhistoriker das Aufkommen, die Blütezeit und den Verfall kirchlicher Gemeinschaften untersuchen. Man kann nach Beispielen für das Erlöschen von konfessionellen Bewegungen und das Sterben von Kirchen fragen. Man wird dabei zu dem Ergebnis kommen, daß Konfessionen, wenn sie sich erst einmal etabliert haben, äußerst zählebig sind und daß sie sich auch gegenüber Verfolgung und Minorisierung als bemerkenswert resistent erweisen. Und wenn tatsächlich einmal eine Kirche stirbt – man denke an die Kirche Nordafrikas, die immerhin einen Theologen wie Aurelius Augustinus hervorgebracht hat, dann blüht sie an anderer Stelle um so kraftvoller auf. Insofern ist es wenig plausibel, aus der uns bedrängenden Entkirchlichung in der Mitte und im Westen Europas auf einen weltweiten Dauertrend zu schließen, wie das manche unserer Modernisierungs- und Säkularisierungstheoretiker tun. Schwund und Siechtum vieler evangelischer Kirchenregionen auf unserem Kontinent werden durch gegenläufige Entwicklungen in anderen Teilen der Welt mehr als aufgefangen. Auch sollte man die Erwartung neuer Erweckungen und Erweckungsbewegungen nicht vorschnell begraben. Wer hätte es am Ende des 18. Jahrhunderts noch für möglich gehalten, daß wenige Dezennien später ein beachtlicher geistlicher Aufbruch durch die deutschen Lande gehen würde, ein Aufbruch übrigens, von dessen Fernwirkungen wir heute noch zehren? Nach menschlichem – und das heißt hier: nach historisch unterrichtetem – Ermessen darf die Zukunft evangelischer Konfessionen als unstrittig gelten. Es wird sie – sofern das Reich Gottes nicht vorher anbricht – vermutlich auch in 1000 Jahren geben, und es stellt sich allenfalls die Frage, wie und wo es sie geben wird.

            Auch die Möglichkeit von Reunionen und Wiedervereinigung getrennter Konfessionen dürfte an dieser Einschätzung im Grundsatz nichts ändern. Die Bilanz solcher Versuche fällt im Vergleich zur Gegenbewegung konfessioneller Differenzierung und Ausdifferenzierung überaus ernüchternd aus. Wo auch immer es solche Zusammenschlüsse gab, und der letzte prominente Zusammenschluß im Zeichen des „Samen op weg“ zur Protestantischen Kirche in den Niederlanden belegt es nur zu deutlich, können an den Rändern die bereits überwunden geglaubten konfessionellen Identitäten um so massiver erstarken. Auch in Unionen behaupten sich Konfessionen. Und auch gegenüber Unionen erweisen sich Konfessionen als höchst zeitbeständige Gebilde. Dabei sind die ganz großen Zerklüftungen der Kirche Jesu Christi noch nicht einmal im Blick: Die Jüngsten unter uns werden im Jahr 2054 das Millenium des Schismas zwischen den Kirchen des Ostens und den Kirchen des Westens erleben. In greifbarere Nähe ist das Jubiläum von Luthers Thesenanschlag gerückt und damit die brennende Frage nach der Weiterentwicklung der evangelisch-katholischen Ökumene. Aber wird das Jahr 2017 eine Vertiefung der Kirchengemeinschaft mit Rom bringen, so wie das Jahr 1973 mit der Leuenberger Konkordie das von reichlich Entfremdung geprägte Verhältnis der evangelischen Konfessionen auf einen neuen Boden gestellt hat? Nach Lage der Dinge ist das zweifelhaft, obwohl jeder Fortschritt im evangelisch-katholischen Verhältnis nur begrüßt werden kann.

Soll man das alles mehr oder weniger murrend hinnehmen? Muß man gar resignieren? Oder soll man sagen: Gottes Geist scheint die Vielfalt und Pluralität und damit eben auch die Polykonfessionalität der Christenheit zu schätzen. Nach menschlichem Ermessen dürfte erst das Reich Gottes die Vielzahl der Konfessionen überwinden. Es ist kaum denkbar, daß sich die eschatologische ecclesia triumphans in konfessioneller Differenziertheit formieren wird. Die irdische ecclesia viatorum hingegen scheint die unterschiedlichsten Wege geführt zu werden und gehen zu sollen: orthodoxe, römisch-katholische, lutherische, reformierte, evangelisch-unierte und anglikanische Wege, um nur einige konfessionelle Hauptstraßen zu nennen. Liegt das nur an menschlicher Unfähigkeit zur konfessionellen Einheit? Oder gibt es für diese differenzierte und mitunter auch gegensätzliche Wegführung der ecclesia viatorum auch triftige theologische Gründe? Immerhin muß es als ein nicht hoch genug zu würdigender ökumenischer Fortschritt beachtet werden, daß die heutige Vision einer ecclesia triumphans nicht mehr einfach die jeweilige Konfessionsgemeinschaft eschatologisch überhöht, indem sie sich wie in den Hoffnungsbildern des konfessionellen Zeitalters bei den einen als eine katholische, bei den anderen als eine evangelische ecclesia triumphans darstellt – nein, im ökumenischen Zeitalter erweist sich auch die ecclesia triumphans eindeutig als überkonfessionell. In dieser Hinsicht sind die vorfindlichen Konfessionen, und also auch die evangelischen unter ihnen, Provisorien, Gebilde, die nicht für die Ewigkeit gemacht sind.

            Spätestens hier zeigt sich, daß die uns beschäftigende Frage primär theologisch angegangen werden muß. Die Empirie steckt voller Mutmaßungen und führt uns über die nächsten 10 Jahre nicht hinaus. Und der Erfahrungsraum der Kirchengeschichte provoziert uns zu allerlei ernüchternden Hypothesen. Trotz der ihnen anhaftenden Wahrscheinlichkeit: Es ist nur Wahrscheinlichkeit, die hier in den Blick kommt. Und eine Wahrscheinlichkeit hat es an sich, daß sie von der Entwicklung falsifiziert werden kann. Es kann alles immer noch ganz anders kommen, als wir vermuteten. Das ist im Horizont menschlicher Erfahrungen übrigens noch wahrscheinlicher als das Eintreffen einer aus dem Verlauf der geschichtlichen Entwicklung wohlbegründet abgeleiteten Wahrscheinlichkeitsprognose.

 

3. Konfessionalität als Erscheinungsmerkmal der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche

Konfessionen nenne man seit dem 19. Jahrhundert „kirchliche Absonderungen innerhalb des Christentums, die sich als eigenständige kirchliche Körperschaften organisierten“[9]. Mit dieser Definition leitete Carl Heinz Ratschow den einschlägigen Artikel in der Theologischen Realenzyklopädie ein, in dem der Leser zuverlässig über Aufkommen und Verwendung des im Bekenntnisverständnis der Confessio Augustana verwurzelten und den älteren Begriff der Religionsparteien ablösenden Konfessionsbegriffs unterrichtet und nach allen Regeln der Kunst mit dem Phänomen der Konfessionalität vertraut gemacht wird. Aufhorchen läßt allerdings die Rede von „kirchlichen Absonderungen“, die dann noch vertieft wird durch den „Begriff von konfessioneller Spaltung“[10]. Obwohl das der Autor nicht intendiert haben dürfte, gewinnt der konfessionelle Aspekt des Kircheseins einen pejorativen Klang. Absonderungen und Abspaltungen sind ja genau das, was der Bitte Christi um die Einheit der Kirche (Joh 17,21) zuwiderläuft. Absonderungen und Abspaltungen bezeichnen ein Defizit, ja einen Defekt, wenn sie nicht gleich als ein schuldhaftes Versagen an der Einheit des Leibes Christi zu betrachten sind.

            So kann es kaum verwundern, wenn anläßlich der Verpflichtung der Christenheit zur Ökumene regelmäßig vom Skandal der Trennung und Spaltung der einen christlichen Kirche die Rede ist. In der Tat sind die konkreten Trennungen und Spaltungen mit vielen Ärgernissen und also Skandalen verbunden – wer wollte bestreiten, daß die massiven Konfliktszenerien kirchlicher Zwietracht und Entzweiung höchst unerfreulich und unschön verlaufen und Verletzungen erzeugen, die manche noch nach Jahrhunderten spüren. Aber wird mit der Rhetorik des Skandals und dem damit bewußt erzeugten schlechten Gewissen der Sachverhalt hinreichend genau beschrieben? Ist Trennung nur Skandal? Könnte Trennung nicht auch Ausdruck einer Entwicklung sein, die die Christenheit auf dem Weg durch die Zeit durchlaufen muß, an der und aus der sie in einer Phase eines gestörten Verhältnisses zu Christus als ihrem Grund und Ursprung immer wieder lernen soll, sich neu an diesem Grund und Ursprung auszurichten? Kann es nicht sogar ernsthafte ekklesiologische Gründe für die konfessionelle Differenziertheit der Christenheit geben? Muß das Ziel der Ökumene wirklich in einem Einheitsmodell gesucht werden, das „volle sichtbare Einheit“ als innergeschichtlichen Zielzustand der Christenheit anstrebt und sich Kirchengemeinschaft nur auf der Basis von Wiedervereinigung zu einer Kirche vorstellen möchte? Gab es in der Geschichte der Christenheit jemals diese volle sichtbare Einheit? Und trägt nicht das Verlangen danach den eigentlich zu bannenden Spaltpilz schon in sich, indem es in der Fixierung auf das Maximalziel die erreichbaren Teilziele eines entkrampften, partnerschaftlichen Miteinanders problematisiert und anzweifelt?

            Die evangelische Lehre von der Kirche wird die Vielfalt der Konfessionen nicht nur unter dem Gesichtspunkt des Ärgernisses betrachten. Sie vermag in der Vielfalt auch einen Reichtum zu sehen, sofern die einzelnen Kirchen sich achten, die ihnen erreichbare Gemeinschaft in Wort und Sakrament suchen und sich nicht gegenseitig die Daseinsberechtigung absprechen. Die jeweiligen Konfessionen werden unter der Verpflichtung gesehen, die von ihnen erkannte Wahrheit des Evangeliums zu bezeugen und lernbereit auf das Zeugnis der anderen zu hören. Da die evangelische Lehre von der Kirche zwischen dem Handeln Gottes und dem Handeln der Menschen so sorgfältig wie nur möglich unterscheidet (man könnte diese Sorgfalt regelrecht als ihre „konfessionelle Mitgift“ bezeichnen), wird sie den Grund der Kirche nicht bei sich selbst, sondern konsequent im Handeln Gottes zur Erlösung der Menschen in Jesus Christus suchen[11]. Sie wird Gott selbst als das Subjekt dieses Grundgeschehens betrachten und folglich die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche als Gegenstand des Glaubens bekennen. Die evangelische Kirche wird sich also nicht unter Ausschließung der anderen Konfessionen mit der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche identifizieren, und sie wird widersprechen, wenn sich eine andere Kirche mit ihr in Abgrenzung von den anderen einfach gleichsetzen würde. Sie wird vielmehr sagen: „Die eine geglaubte Kirche (Singular) ist in unterschiedlich geprägten Kirchen (Plural) verborgen gegenwärtig.“[12]

            Hier erscheint die Kirche deutlich in einer Doppelperspektive: einerseits als Gegenstand des Glaubens und andererseits – zugleich – als eine sichtbare Gemeinschaft, eine Konfession, die in der Vielzahl der geschichtlichen Gestalten von Kirche erfahrbar ist[13]. Dabei soll das Verhältnis zwischen geglaubter Kirche und sichtbarer Kirche ein zutiefst konstruktives sein. Die sichtbare Gestalt soll das ursprüngliche Wesen der Kirche bezeugen. Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität als Eigenschaften der geglaubten Kirche sollen sich orientierend, erneuernd und gestaltend in der jeweiligen konfessionellen Gemeinschaft Raum schaffen[14]. In diesem Sinne hat die evangelische Kirche teil an der einen verborgenen Kirche des Glaubens, ist es durchaus stichhaltig, den Begriff einer lutherischen oder reformierten Katholizität zu bilden, wie man umgekehrt dort, wo Katholiken das Evangelium der Rechtfertigung bezeugen, ohne Zögern von einem katholischen Protestantismus, nämlich von einem Zeugnis für das Evangelium (testari pro evangelio und also pro-testari) in der katholischen Kirche, sprechen muß.

            Konfessionalität stellt demgemäß keinen defizitären und deshalb zu überwindenden Zustand dar. Sie ist vielmehr als ein geschichtliches Phänomen der einen Kirche Jesu Christi ernst- und anzunehmen und im Wissen um die in Christus immer schon gegebene Verbundenheit über Kirchen- und Konfessionsgrenzen hinweg als produktive Herausforderung zu betrachten.

 

4. Die Konfessionsbestimmtheit reformierter Theologie – ein Blick in Barths Dogmatik

Theologisches Denken soll der Orientierung kirchlichen Handelns dienen. Kirchliches Handeln ist konfessionsbestimmt. Interessanterweise wird diese Konfessionsbestimmtheit des kirchlichen Handelns kaum reflektiert, in der Regel folgt man vorgeprägten konfessionellen Traditionen und den entsprechenden eingeschliffenen Verhaltensmustern. Das ist kein Zufall. Es fällt nämlich auf, daß das theologische Denken seiner Konfessionsbestimmtheit entschieden zu wenig Aufmerksamkeit schenkt. Wenn aber das theologische Nachdenken über das konfessionelle Profil ausfällt, sind die eingangs beschriebenen Selbstzweifel regelrecht vorprogrammiert. Nicht zufällig häufen sich dann die Fragen, weshalb wir evangelisch sind, was lutherisch oder – im Hinblick auf uns – was denn reformiert sei.

            Der gewiesene Ort für solche Überlegungen wäre eigentlich die dogmatische Prinzipienlehre[15]. Man denke an die drei Traktate der klassischen katholischen Fundamentaltheologie: Zuerst wurde in der demonstratio religiosa der Wahrheitsgehalt der Religion, sodann in der demonstratio christiana der Wahrheitsgehalt der den Glauben begründenden Offenbarung reflektiert. Der dritte Traktat war der demonstratio catholica gewidmet und bestand in einem solennen Erweis des Absolutheitsanspruchs des katholischen Christentums. Natürlich kann man Gleiches nicht für eine reformierte Prinzipienlehre fordern, zumal selbst die katholische Lehre auf eine gewisse Distanz zu manchen (nicht zu allen) Überbietungsansprüchen der demonstratio catholica gegangen ist. Aber ein bißchen demonstratio reformata, will sagen: wenigstens eine kleine wohlfundierte Reflexion der eigenen Konfessionsbestimmtheit würde unserer Dogmatik guttun, zumal sich ja nicht leugnen läßt, daß dann das Evangelische, das Lutherische oder eben auch das Reformierte die Problemerörterung immer wieder mehr oder minder deutlich beeinflussen.

            Wie eine solche Reflexion der Konfessionsbestimmtheit der reformierten Dogmatik aussehen könnte, läßt sich beispielhaft bei Karl Barth nachlesen. Schon in Barths „Urdogmatik“, dem „Unterricht in der christlichen Religion“, findet sich ein entsprechender Passus[16]. Er taucht an gleicher Stelle, natürlich sichtlich überarbeitet, in der Christlichen Dogmatik von 1927 wieder auf[17] und erlangt dann, wiederum deutlich verändert und beträchtlich erweitert, seine Endgestalt in dem entsprechenden Abschnitt der Kirchlichen Dogmatik[18], auf den ich mich im folgenden beziehe. Die Plazierung des Abschnitts ist in allen drei Fällen die gleiche: Er befindet sich zwischen einer Reflexion auf die biblische und einer Reflexion auf die kirchliche Haltung der Dogmatik; ihr konfessioneller Kontext nimmt die Mittelposition zwischen ihrem biblischen und ihrem kirchlichen Kontext ein.

            Die Arbeit heutiger Theologie sei bestimmt durch den Bezug auf die Stimme der theologischen Väter und die Lehrentscheidungen der Kirche. Daraus ergab sich für Barth „die Forderung konfessioneller Haltung[19]. Der Gefahr eines sich auf die eigene Konfession versteifenden Konfessionalismus begegnete er dadurch, daß er die konkrete konfessionelle Beheimatung des theologischen Denkens universalkirchlich relativiert. Konfessionsbestimmtheit kann überhaupt nur relativ sein, weil die „absolut bestimmte Heimat natürlich keine andere [sein kann] als die una sancta catholica et apostolica [ecclesia][20]. Aber diese una sancta catholica et apostolica ecclesia existiert immer nur konkret in der Gestalt des Glaubens einer bestimmten Kirche. Daraus ergibt sich die Ökumenizität des theologischen Denkens, die Verpflichtung auf das Ganze der Christenheit. Die jeweilige konfessionsbestimmte Dogmatik kann keineswegs nur auf die Denkarbeit für die ihr zuzuordnende Konfessionskirche verpflichtet werden. Die evangelische Dogmatik, die Barth in diesem Zusammenhang zunächst akzentuierte, ist nicht nur evangelische Dogmatik für die evangelische Kirche, sie hat vielmehr „das Eine, was not tut, im Blick auf die ganze Kirche zu vertreten und zu verteidigen“[21]. Sie vertritt das Evangelische nicht als ein Sonderanliegen, „sondern als das Anliegen der einen ganzen Kirche Jesu Christi“[22]. Ja, Barth bekräftigte diesen ökumenischen Horizont der Konfessionsbestimmtheit auch nach der anderen Seite hin: „Das bewußt Sonderkirchliche oder Provinzialkirchliche könnte als solches nur das Unkirchliche sein.“[23]

            Reformierte Theologie kann also nicht einseitig auf die Pflege reformierter Identität, reformierten Profils oder reformierter Interessen ausgerichtet werden, sie würde dann unweigerlich zu einer sektiererischen Angelegenheit. Die evangelische Kirche gibt es nicht schon als solche (von einer Unionsdogmatik wollte Barth nichts wissen[24]). Sie begegnet jeweils konkret in ihrer lutherischen, ihrer reformierten und in ihrer anglikanischen Gestalt (es verdient Beachtung, daß Barth diese dritte aus der Reformation hervorgegangene Konfession, die von uns evangelischen Kontinentaleuropäern in der Regel übersehen wird, ausdrücklich in seine Überlegungen einbezog). Auffällig ist die versöhnliche Betrachtungsweise, mit der Barth die Differenzen der drei evangelischen Konfessionen zeichnete. Was die Reformierten von den anderen beiden trenne, seien keine Häresien wie im Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche, zur östlichen Orthodoxie und zum Neuprotestantismus, den Barth bei solchen Überlegungen regelmäßig als degenerierte Erscheinung des evangelischen Christentums vorzuführen pflegte[25], sondern „bestimmte Irrtümer, bestimmte schlecht, mißverständlich, irreführend, willkürlich gebildete Theologumene, wie sie auch innerhalb der reformierten Kirche selbst auftauchen können, ohne deshalb eine Kirchentrennung nötig zu machen“[26]. Der Gegensatz zwischen den hier einander widersprechenden Lehrauffassungen sei nicht der zwischen Kirche und Gegenkirche oder gar Nichtkirche, sondern der „Gegensatz von verschiedenen theologischen Schulen oder Richtungen innerhalb derselben Kirche, und innerhalb ihres grundsätzlich übereinstimmenden Bekenntnisses“[27]. In der Behauptung der Gegensätze könne es hier immer nur um ihre Überwindung gehen[28]. Es klingt in mancher Hinsicht schon wie eine Ouvertüre zur Leuenberger Konkordie von 1973 und zur Meißener Erklärung von 1988, in der die EKD und die Kirche von England ihrer Gemeinschaft eine neue Qualität verliehen, wenn Barth 1938 das Ziel der Arbeit evangelischer Dogmatik im Blick auf die innerevangelischen Lehrdifferenzen so beschreiben konnte: „die Aufhebung der Gegensätze, die Erarbeitung einer gemeinsamen Interpretation des Glaubensbekenntnisses und insofern ein neues, die alten im früher besprochenen Sinn nicht beseitigendes, aber überbietendes Bekenntnis“[29].

            Man hat diese Voraussetzungen und diesen Zusammenhang immer mitzudenken, wenn man sich vergegenwärtigt, wie klar und präzise Barth nun gerade die reformierte Perspektive konturierte, auf die hin er seine Kirchliche Dogmatik ausgerichtet sah: „[...] wir können nicht ebensogut anglikanische, lutherische und reformierte, sondern wir können nur reformierte Dogmatik treiben“[30]. Die Kirchliche Dogmatik ist also eine Dogmatik, die das, was die reformierte Sicht des Evangelischen darstellt, als Einsicht der evangelischen Kirche und darin dann als Anliegen der einen ganzen Kirche Jesu Christi zu vertreten hat. „Kirchliche Dogmatik ist also für uns notwendig reformierte Dogmatik; wobei unter reformierter Dogmatik zu verstehen ist: die Dogmatik der insbesondere durch den Dienst Calvins und des sein Zeugnis bestätigenden Bekenntnisses gereinigten und neu begründeten Kirche, der Kirche, die in dieser Bestimmtheit [...] das Wort Gottes hört.“[31] Barth ließ keinen Zweifel an den Vorzügen dieser Bestimmtheit. Sie werde „als die bessere“[32] erkannt, man nehme die Irrtümer bei den anderen evangelischen Konfessionen so ernst, „daß wir ihnen gegenüber an der Bezeugung der reineren Lehre und also an der besonderen Gestalt reformierter Kirche und Theologie festhalten“[33]. Aber das sei nicht konfessionalistisch zu verstehen, sondern konsequent auf das Ziel hin formuliert, daß die reformierte Dogmatik in besonderer Weise an der Überwindung der Lehrgegensätze in der evangelischen Kirche zu arbeiten habe (im Blick auf die katholische Dogmatik ist von „echter dogmatischer Intoleranz“[34], freilich in eindeutig ökumenischer Absicht, die Rede[35]). Im Rückblick auf Barmen und die Erfahrungen des Kirchenkampfs, die Barths Sicht nicht unmaßgeblich beeinflußt haben, konnte er sogar auf das „Bewußtsein“ anspielen, dem schon Calvin und die alten Calvinisten gelegentlich Ausdruck gegeben hätten, „daß wir gerade als Reformierte zugleich die eigentlichen, wahren und genuinen Lutheraner sind, daß wir ein Kompendium lutherischer Lehre wie den kleinen und großen Katechismus Luthers, mit einigen Klammern und Fragezeichen versehen, durchaus auch als Bekenntnisschrift der reformierten Kirche in Anspruch nehmen und es als solches auszulegen – und zwar im Sinne Luthers selbst und also echt, echter als dies in den allermeisten lutherischen Hörsälen geschieht, auszulegen – uns bestimmt zutrauen“[36]. In diesem Sinne kann auch den anderen evangelischen Konfessionen „eine gewisse ‘Calvinisierung’“[37] zugemutet werden, indem ihnen zuzumuten ist, die innerevangelischen Differenzen als Differenzen der theologischen Schule, aber eben nicht als konfessionstrennende Gegensätze zu behandeln.

            Aus der Sicht Barths kann an der Zukunftsfähigkeit der evangelischen Konfession im allgemeinen und der reformierten Konfession im besonderen nicht der geringste Zweifel bestehen. Sie werden gebraucht, indem sie das von ihnen als evangelisch Erkannte als Anliegen der einen, katholischen Kirche zur Geltung zu bringen haben. Die Annäherung der einzelnen evangelischen Konfessionen ist hochwillkommen, lassen sich doch ihre Differenzen nicht als kirchentrennend, sondern als Unterschiede der theologischen Schulen auffassen und in diesem Sinne dann auch fruchtbar machen. Reformierte sollen sich nicht als innerevangelische Alternative zu den Lutheranern verstehen (und darin mißverstehen), sondern ganz einfach als die konsequenteren und darin eigentlichen Lutheraner erweisen.

 

5. Was ist das Reformierte am Evangelischen?

Zweifellos ist die Rede von den konsequenteren Lutheranern ein bißchen gewagt. Aber unterstellen wir einmal eine uns Reformierte mit den Lutheranern verbindende besondere Verantwortung für die Erneuerung der Kirche Jesu Christi. Die konsequenteren Lutheraner wären dann diejenigen, die den reformatorischen Impuls zur Erneuerung der Kirche konsequenter aufnehmen und zur Geltung kommen lassen würden.

            Was aber ist der Geist der Reformation? Die ersten schulmäßigen Definitionen am Beginn des 17. Jahrhunderts betrachteten die Reformation als „die Reinigung der von der geschuldeten Vollkommenheit abgewichenen Kirche von ihren Fehlern und Rückführung zu ihrer echten Gestalt“[38]. Reformation wird als Reinigung verstanden, als Zurückrufung und Hinwendung der Kirche zu ihrer echten Gestalt. Die Kirche, die immer wieder im Begriff ist, von ihrer genuinen Form, von ihrer Authentizität als Kirche Jesu Christi abzuweichen oder abzufallen, soll durch Reformation zu ihrem Ursprung zurückgeführt werden und aus ihrem Ursprung heraus die ihr verloren gegangene Authentizität zurückerhalten. In diesem Sinne hat Calvin in seinem programmatischen Schreiben an Kardinal Sadolet behauptet, daß die Reformatoren um nichts anderes bemüht seien, „als eben das alte Gesicht der Kirche endlich wiederherzustellen, das zuerst von ungebildeten und nicht gerade von den besten Menschen häßlich entstellt, später vom römischen Papst und seiner Partei schmachvoll verletzt und nahezu vernichtet worden ist“[39]. In der von den Aposteln begründeten Gestalt der Kirche finden wir „das Urbild der wahren Kirche [unicum habemus verae ecclesiae exemplar]: wer auch nur einen Schritt davon abweicht, bewegt sich auf einem Irrweg“[40]. Und Calvin hob hervor, daß die Orientierung an jenem Urbild an die Reinheit und Klarheit der Bezeugung des Evangeliums gebunden sei, ja daß die Wiederherstellung des Bekenntnisses in seiner ursprünglichen Reinheit die unbedingte Voraussetzung der reformatorischen Erneuerung der Kirche sei[41]. Man muß das von Calvin gesuchte Urbild keineswegs mit der historischen Urkirche identifizieren, obwohl der Blick in das apostolische und nachapostolische Zeitalter bei der Frage nach dem Weg, den wir im 21. Jahrhundert gehen sollen, unerläßlich ist. Das Urbild wäre genauer als das Ursprungsgeschehen zu interpretieren, in dem Kirche zur Kirche wird: Gottes erwählendes und berufendes Handeln, das die Kirche jeweils neu zur Kirche macht. Nicht die Rückkehr zu ihrem zeitlichen Ursprung (das wäre die Haltung einer geschichtslosen Nostalgie), sondern jeweils die Rückkehr zu ihrem sachlichen Ursprung im Handeln Gottes wäre dann als die reformatorische Wendung zu begreifen, in der sich die hörende und im Hören erneuerungsfähige Kirche befindet[42].

            In diesem Sinne wollten die reformierten Kirchen noch konsequenter Kirchen der Reformation sein als die Kirchen ihrer evangelischen Geschwister. Mit den Lutheranern wollten sie bewußt Kirchen des verkündigten Wortes sein und standen mehr oder minder kritisch zu den Vorgaben kirchlicher Tradition. Mit den Lutheranern lehnten sie die Hierarchie als kirchliches Gestaltungsprinzip ab und schätzten das allgemeine Priestertum aller getauften Glaubenden. Mit den Lutheranern (und darin wirklich getreue Schüler Luthers) fühlten sie sich der befreienden Rechtfertigungsbotschaft verpflichtet und wußten, daß auch die Kirche irren kann und ebenso von der Vergebung lebt wie die, denen sie Vergebung zuspricht. Aber auf der Basis dieser fundamentalen Gemeinsamkeiten mit ihren lutherischen Geschwistern verstärkten sie den Akzent des Reformatorischen. Rein äußerlich erkennt man das daran, daß sie sehr bewußt auf einen Menschennamen in der Konfessionsbezeichnung verzichteten. Sie begriffen und begreifen sich als eine „nach Gottes Wort reformierte Kirche“. Darin kommt zweierlei zum Ausdruck: Einmal: Es ist das Wort Gottes, nicht die menschliche Organisations- und Gestaltungslust, das die Kirche erneuert und zur erneuernden Umkehr ruft. Reformation und Erneuerung vollziehen sich im Hören auf das Wort dessen, der der Herr der Kirche ist. Und: Reformation und Erneuerung sind andauernde, die Kirche allezeit begleitende Prozesse; die Reformation geht weiter, begleitet die Kirche auf ihrem Weg durch die Zeiten als kritischer Schrittmacher zu neuen Stationen, Kontexten, Herausforderungen. Was sich gestern aus guten Gründen bewährt hat, kann heute aus guten Gründen angefragt werden und nach Erneuerung rufen – immer im Hören auf das Wort und im Blick auf den kirchengründenden Ursprung, also nicht deshalb, weil man irgendwelche Modernisierungsbedürfnisse zu befriedigen hätte.

Wir wissen um die profilierenden Wirkungen des Bemühens, konsequenter reformatorische Kirche zu sein. Indem man das Wort Gottes konsequenter hören wollte, hörte man es von Anfang an in der Einheit der Bibel Alten und Neuen Testaments. Indem man den neuen Gehorsam der Christen energischer zur Geltung bringen wollte, maß man den Zehn Geboten (in ihrer ursprünglichen biblischen Zählung) und der Heiligung des Christenmenschen großes Gewicht zu und betonte die enge Verbindung von Zuspruch und Anspruch. Indem man die Gemeinden betont auf dem Boden der Briefe des Apostels Paulus bauen wollte, entwickelte man presbyterial-synodale Kirchenordnungen in mustergültiger Verbindung von theologischer Fundierung und organisatorischer Gestaltung. Indem die reformierte Kirche oft genug Minorität und Kirche im Widerstand und der Leidensnachfolge gewesen war, hat gerade sie ein deutliches Gespür für die gesellschaftliche Verantwortung der Christen entwickelt und einem unkritischen Untertanengehorsam entgegenarbeiten können. Die reformierte Christenheit sah sich unter dem Vorbehalt, daß alles menschliche Tun der Ehre Gottes dienen müsse. Deshalb entwickelten die Reformierten eine charmante Unbefangenheit, ja Respektlosigkeit gegenüber aufdringlichen Autoritäten und ruhmbedachten Selbstdarstellungen und pflegten einen durchaus erfrischenden Humor gegenüber Heiligenlegenden, heiligen Gefühlen oder Personenkult.

Bei diesen Beschreibungen bin ich fast unwillkürlich in die Vergangenheitsform gewechselt. Das ist kein Zufall. Ich bin mir nämlich nicht so sicher, ob wir unseren heutigen Zustand angemessen darstellen, wenn wir ihn so beschreiben würden. Mich beschweren unsere Hilflosigkeit in den Krisen und Anfechtungen der Zeit, unsere geistliche Erstarrung, unser Kleinglaube gegenüber den Zusagen des Evangeliums, der Mangel an Anziehungskraft unserer Gemeinden, unsere Angst vor ökumenischer Öffnung. Andererseits sind mit dieser Beschreibung zentrale Momente unserer unverwechselbaren konfessionellen Identität berührt. Wir kommen, wenn wir nach der Zukunft der evangelischen Konfessionen fragen, nicht an unserer Herkunft vorbei. Es gibt keine Zukunft ohne Herkunft. So haben wir uns auf den von unseren reformierten Vätern und Müttern in der Besinnung auf Jesus Christus als den „einzigen Trost im Leben und im Sterben“ (Heidelberger Katechismus, 1) beschrittenen Weg zur Erneuerung der Kirche zu besinnen. Ihre Erkenntnisse und Einsichten stellen ein Erfahrungspotential dar, das uns bei der von unserer Generation zu verantwortenden Suche nach Orientierung für den Weg der Kirche Jesu Christi unverzichtbare Dienste zu leisten vermag. Es geht hier nicht um die Pflege und Förderung reformierter Sonderinteressen. Eine Kirche, die sich auf die Pflege von Sonderinteressen versteifen würde, betriebe konfessionelle Folklore und machte sich zur Sekte. Nein, das geistliche und theologische Erfahrungspotential der reformierten Konfession soll der ganzen Christenheit zugute kommen. Nur zu ihrem Nachteil wird die Christenheit auf dieses Erfahrungspotential verzichten können. Wegen der zu suchenden Gemeinschaft mit den anderen wird der reformierte Zweig der Christenheit an seiner eigenen kirchlichen Verfaßtheit festhalten. Er würde und könnte seine kirchliche Verfaßtheit erst dann zur Disposition stellen, wenn jenes Erfahrungspotential zum ökumenischen Allgemeinbesitz geworden wäre.

 

6. Das Evangelische am Reformierten – oder: Christus ist unersetzbar

Mit der 1994 in Wien verabschiedeten Studie „Die Kirche Jesu Christi“ haben die reformatorischen Kirchen Europas das sie verbindende Kirchenverständnis beschrieben[43]. Gemeinsam haben sie zum Ausdruck gebracht, daß sich der Ursprung der Kirche, der Grund, aus dem sie lebt, nur in theologischen Sätzen aussagen läßt. Es sind Sätze, die das allem menschlichen Handeln vorausgehende Handeln Gottes anzeigen – jenes Handelns, in dem sich der dreieinige Gott die Kirche erwählt, in dem er sie beruft und rechtfertigt, heiligt und sendet. Ganz im Sinne des reformatorischen Verständnisses von Evangelium muß der Ursprung der Kirche im rechtfertigenden Handeln des dreieinigen Gottes gesucht werden. Das Geschehen, das Kirche überhaupt zur Kirche macht und allem menschlichen Agieren und Gestalten souverän vorausgeht, ist sein rechtfertigendes Befreiungshandeln, das in der Predigt des Evangeliums bezeugt und mit den Sakramenten gefeiert wird.

Wird auf Jesus Christus als das Haupt der Kirche geblickt, so läßt sich der gleiche Sachverhalt christologisch darstellen. Das ist zum Beispiel in der Barmer Theologischen Erklärung der Fall: „Die christliche Kirche ist die Gemeinde von Brüdern [und Schwestern], in der Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt.“[44] Die reformatorische Theologie akzentuiert mit Nachdruck die qualitative Differenz zwischen dem Ursprung oder Grund und der geschichtlichen Gestalt der Kirche und erhebt die für sie konstitutive Grundunterscheidung zwischen dem Handeln Gottes und dem Handeln der Menschen in den Rang eines ekklesiologischen Leitprinzips. Über ihren Ursprung kann die geschichtliche Kirche niemals verfügen, ihm kann sie sich nur öffnen und sich immer wieder neu von ihm befreien und in Anspruch nehmen lassen.          

Dieser Denkansatz ist spezifisch reformatorisch, wobei man anmerken muß, daß er in dieser Form auch von den Anglikanern nicht mitgetragen wird. Sie und erst recht die Orthodoxen und die Katholiken wenden ein, daß Protestanten offenbar zu gering von ihrer Kirche denken und Gefahr laufen, die heilsgeschichtliche Stellung der Kirche zu unterschätzen. Dieser Einwand gibt natürlich zu denken. Und er gibt erst recht zu denken, wenn sich die Hochschätzung der Kirche als Werkzeug im Heilsplan Gottes und als Vorgeschmack des Reiches Gottes auch noch mit einer mediengerechten Selbstdarstellung verbindet, die auch den Kritikern des Christentums höchste Bewunderung zu entlocken vermag. Was ist schon der Protestantismus mit der Kargheit seiner Symbole, der Schlichtheit seiner Liturgie und der Nüchternheit im Umgang mit Ämtern, Würden und Gewändern, wenn man ihn an der Regie der Festakte auf dem Petersplatz in Rom mißt?

Aber fragen wir auch: Könnte es nicht sein, daß die uns von Christus zugedachte Rolle gerade die der Kargheit und Schlichtheit ist? Sind wir vielleicht in erster Linie dazu da, der Welt zu bezeugen, daß der Glaube nicht nur von den Bildern und Riten, sondern zuerst und zuletzt von den Worten und Zusagen des Evangeliums lebt, die sich unauffällig und leise den Weg zu den Herzen der Menschen bahnen und uns alle, wirklich alle, als Zeugen beanspruchen möchten? Wäre es denkbar, daß der Herr der Kirche auch Kirchentümer haben will, die in ihrem Aufbau und ihren Lebensformen dem schlichten, aber darin gerade höchst attraktiven Zustand der frühen Christenheit mehr ähneln als jene, die von Jahrhundert zu Jahrhundert an Traditionsbewußtsein zunahmen?

            Die Kirche darf jedenfalls nicht mit dem Herrn der Kirche verwechselt werden. Man kann und muß fragen, ob dieser Unterschied zwischen Christus und seiner Kirche bei den anderen immer deutlich genug gewahrt bleibt. Das berühmte katholische Lehrschreiben „Dominus Iesus“ vom 6. August 2000 trägt den Untertitel: „Über die Einzigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche“. Die reformatorischen Kirchen werden mit der Katholischen Kirche die Einzigkeit und Heilsuniversalität Jesu Christi deutlich betonen, handelt es sich dabei doch um ihr eigenes Hauptthema: solus Christus, Christus allein, Christus, der einzige Trost (Heidelberger Katechismus 1), Christus das eine Wort Gottes, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben (Barmen I). Aber sie würden diese Einzigkeit und Heilsuniversalität niemals in einem Atemzug mit ihrer eigenen Kirche nennen und also auch und in gleichem Zusammenhang nicht von der Einzigkeit und Heilsuniversalität der Kirche sprechen. Die Kirche, so müssen sie sagen, ist keine Verlängerung Jesu Christi in Zeit und Geschichte, sondern sein Geschöpf. Sie ist von ihm zu unterscheiden, gerade damit Christus in der Kirche erkennbar bleibt, damit ihn unsere Bilder und Riten nicht überblenden und so verdecken.

            Friedrich Schleiermacher, einer der großen Denker der evangelischen Christenheit, hatte den Unterschied zwischen Protestantismus und Katholizismus „vorläufig“, wie er sagte, so pointieren wollen: Der Protestantismus mache das Verhältnis des Einzelnen zur Kirche abhängig von seinem Verhältnis zu Christus, der Katholizismus aber umgekehrt das Verhältnis des Einzelnen zu Christus von seinem Verhältnis zur Kirche[45]. Das ist eine treffsichere, sehr erhellende Beschreibung des bestehenden Unterschieds. Er hat Folgen, die in alle Bereiche der kirchlichen Ordnung und des kirchlichen Lebens reichen. Die evangelische Kirche versteht sich nicht als sakramentales Werkzeug der Heilsvermittlung. Sie tritt sehr bewußt hinter Jesus Christus zurück. Sie will ein Ort sein, an dem er bezeugt, er bekannt, er gehört wird, weil nicht die Kirche, sondern weil er der Mittler zwischen Gott und den Menschen ist.

„Wir sind insofern unersetzbar, als wir bereit sind, an unserer Unersetzbarkeit nicht festzuhalten“, hatte Pavel Filipi gesagt. Nun wird deutlich, daß dieser Aphorismus einen christologischen Hintergrund hat und erst auf ihm in seiner ganzen Tiefe verstanden werden kann. Wir halten uns nicht für unersetzbar, weil das solus Christus gilt. Wir halten uns nicht für unersetzbar, weil die Unersetzbarkeit Christi durch nichts relativiert werden kann, nicht einmal durch ein Kirchenverständnis, das den Glauben an die eigene Unersetzbarkeit aus der Unersetzbarkeit Christi für das Heil der Welt ableiten möchte. Daran zu erinnern, daß die Kirche mit ihrem Zeugnis immer hinter Christus zurückzutreten und immer über sich hinaus auf ihn als den einzigen Trost im Leben und im Sterben zu verweisen hat – das wäre nicht der schlechteste Dienst, den die evangelischen Konfessionen der ganzen Christenheit auf Erden zu erweisen hätten. Deshalb dürfen sich nicht für unersetzbar halten, obwohl dieser Dienst in Christi Namen geradezu unersetzlich ist.

 


[1] Vortrag, gehalten am 2. Juli 2005 auf der Hauptversammlung des Reformierten Bundes in Frankfurt am Main.

die reformierten upd@te 05.2, das reformierte quartalsmagazin - 6.jahrgang 2005, nr.2, S.25-36

[2] P. Filipi, Die Aufgaben des Gesprächs der reformatorischen Kirchen heute (in: Konkordie und Ökumene. Die Leuenberger Kirchengemeinschaft in der gegenwärtigen ökumenischen Situation. Texte der Konferenz von Straßburg, hg. von A. Birmelé, Frankfurt/M. 1988, 127-142), 127.

[3] Vgl. hierzu und zum folgenden aaO 127f.

[4] Vgl. aaO 130.

[5] Ebd.

[6] K. Kraus, Aphorismen und Gedichte. Auswahl 1903-1933, Berlin 1974, 95 (Aphorismus 698).

[7] Filippi, 129.

[8] AaO 130.

[9] C. H. Ratschow, Art. Konfession/Konfessionalität (in: TRE 19, 419-426), 419.

[10] Ebd.

[11] Vgl. hierzu die Ekklesiologiestudie der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE), mit der die reformatorischen Kirchen ihr gemeinsames Kirchenverständnis beschrieben haben: Die Kirche Jesu Christi. Der reformatorische Beitrag zum ökumenischen Dialog über die kirchliche Einheit. Im Auftrag des Exekutivausschusses für die Leuenberger Kirchengemeinschaft hg. von W. Hüffmeier, Frankfurt/M. 1995 (= Leuenberger Texte 1), 19.

[12] Ebd.

[13] Vgl. aaO 25.

[14] Vgl. aaO 26f.

[15] Nachfolgend knüpfe ich an Überlegungen aus meinem Aufsatz an: Reformierte Dogmatik zwischen konfessioneller Bindung und der Verpflichtung zu weiterführender (auch konfessionsübergreifender) Theoriebildung (in: Ad fontes. Theologiese, historiese en wetenskaps-filosofiese studies binne reformatiese kader. Festschrift vir Ludi Schulze, [hg. von] Victor E. d’Assonville, jr. & Erik A. de Boer [red.s], Bloemfontein 2004, 159-171), 165ff.

[16] Vgl. K. Barth, „Unterricht in der christlichen Religion“. Bd. I: Prolegomena 1924, hg. von H. Reiffen, Zürich 1985, 353-357.

[17] Vgl. K. Barth, Die christliche Dogmatik im Entwurf. Erster Band: Die Lehre vom Worte Gottes. Prolegomena zur christlichen Dogmatik. 1927, hg. von G. Sauter, Zürich 1982, 561-564.

[18] Vgl. KD I/2, 919-938.

[19] KD I/2, 919.

[20] Ebd.

[21] AaO 923.

[22] AaO 924.

[23] AaO 925.

[24] Vgl. aaO 928.

[25] Vgl. aaO 929 sowie 927.

[26] AaO 929.

[27] AaO 930.

[28] AaO 933.

[29] Ebd.

[30] AaO 928.

[31] AaO 928f.

[32] AaO 929.

[33] AaO 930.

[34] AaO 924.

[35] „Wo man sich in echter dogmatischer Intoleranz gegenübersteht, gerade da und nur da wird man immer miteinander reden können, wird man auch fruchtbar miteinander reden, weil man da und nur da einander von Konfession zu Konfession etwas zu sagen hat.“ (ebd.).

[36] AaO 938.

[37] Ebd.

[38] „Est autem reformatio ecclesiae a debita perfectione deflexae a vitiis repurgatio, et ad genuinam formam revocatio“, in: Breves ... de ecclesiarum particularium Reformatione quoad doctrinam et ritus aphorismi ..., quos Praeside ... Casparo Sturmio ... tueri conabitur ... Hieronymos Quantzius ... die 21. Martii [Marburg 1606], 2, zitiert nach Th. Mahlmann, Art. Reformation (HWP 8, 416-427), 419.

[39] J. Calvin, Antwort an Kardinal Sadolet [1539] (in: Calvin-Studienausgabe, I/2, 1994, [337]346-429), 369, Z. 28-31.

[40] AaO 369, Z. 33-34.

[41] Vgl. aaO 417, Z. 22ff.

[42] Vgl. K. Barth, KD IV/1, 787, im Hinblick auf das ecclesia semper reformanda: „Es heißt: nicht müde werden in der Rückkehr zum – nicht zum zeitlichen, wohl aber zum sachlichen Ursprung der Gemeinde“.

[43] Siehe oben Anm. 11.

[44] These 3 der Theologische[n] Erklärung zur gegenwärtigen Lage der Deutschen Evangelischen Kirche, zitiert nach: Die Barmer Theologische Erklärung. Einführung und Dokumentation, hg. von A. Burgsmüller und R. Weth, 19986, 36.

[45] F. D. E. Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, 21830, § 24.

 

Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Beintker

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