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Glaube bereichert

.... Calvin und der Kapitalismus

 

Matthias Krieg

Vortrag gehalten am 4. März 2009 in der Friedrichstadtkirche am Gendarmenmarkt in Berlin

 

[16.10.09] Der Vortrage ist mit anderen veröffentlicht in

Der Umstrittene

Johannes Calvin 1509-1564

Vortragsreihe zum 500.Geburtstag des europäischen Reformators

Herausgeber:

Consistorium der Französischen Kirche zu Berlin (Hugenottenkirche) Reformierter Kirchenkreis der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberalusitz

Schriftenreihe der Französischen Kirche zu Berlin, Heft 2, Juli 2009

 

 

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Christen, Calvinisten und Kapitalisten –

 

Ich war wohl nicht mehr ganz bei Trost, als ich für ein solches Thema zugesagt hatte:

Ich, ein Schweizer aus dem Land des Bankgeheimnisses, dem in diesen Wochen die Schwarze Liste droht, in das seit Jahren Finanzströme fliessen, saubere und schmutzige, staatliche und private, wohin nun aber auch geifernde Giftspritzer fliegen, von entnervten Finanzministern auf der Suche nach Geld, von gestressten Regierungen beim Finden von Schuldigen.

Ich, ein Reformierter aus dem Einflussbereich Calvins, dem so manches angehängt wird, das jetzt in Frage steht:

die Prädestination, die manche bereichere und viele ausbeute, die Theology of prosperity, mit der die Gier sich rechtfertige, der Kapitalismus der weissen, bürgerlichen, westlichen Welt, heute offenbar sogar für immer mehr Chinesen ein Grund, wenn man prosperiert und aufsteigt, auch Christ zu werden.

Ich, ein Theologe mit Schwerpunkt Bibel und Glaube, also weder Historiker noch Dogmatiker, auch nicht Ethiker, zudem Erwachsenenbildner und Kirchenmann, dessen einzige Referenz für dieses Thema wohl darin liegt, sich länger mit dem Reformiertsein beschäftigt zu haben.

Ich war wohl nicht mehr ganz bei Trost, damals, als ich zusagte und die Krise noch schlief.

Nun, da sie wach ist und weltweit wütet, stehe ich hier, rede erst recht von Calvin und singe kein Miserere, denn das wäre fast schon katholisch.

 

Glaube bereichert.

Wer glaubt, weiss das.

Wer nicht glaubt, will wissen, wieso und womit.

Darüber habe ich mein Referat vorbereitet.

 

Meine Antworten haben drei Denkvoraussetzungen:

Die erste:  Den Calvinismus gibt es nicht!

Aber es gibt einen typisch reformierten Habitus. Reformierte Milieus und reformierte Mentalitäten gibt es, in denen die Lebensleistung Calvins nachhaltig geworden ist. Von ihnen will ich mit Beispielen erzählen.

Die zweite:  Die eine Wahrheit über Calvin gibt es nicht!

Aber es gibt verschiedene Bilder von Calvin, geleitet von den Interessen und Sichtweisen der Zeit. Der Geniekult der Spätromantik hat Denkmäler gebaut, die Postmoderne zerlegt Heldenlegenden in Fragmente. Immer sind es Konstruktionen, die einer These folgen. Meine ist, dass es Elemente einer reformierten Identität gibt, an deren Entwicklung Calvin massgeblich beteiligt ist. Mein Calvinbild will ich aus meinen Beispielen konstruieren.

Die dritte:  Die Ableitung des Kapitalismus vom Calvinismus gibt es nicht!

Ja, der Glaube bereichert allseitig, auch den Haushalt, und der Wohlstand hat auch mit dem Bekenntnisstand zu tun. Aber nein, monokausale Denkmuster verfehlen ihren Zweck. Sie wollen die Quelle finden und verunreinigen den Fluss. Sie missachten die Vielfalt und ideologisieren das Bild.

Meine Beispiele und mein Calvinbild ergeben fünf Erklärungen. Ich will sie Ihnen nun in fünf Kapiteln erläutern.

Zuerst aber ein kleines anschauliches Vorspiel:

 

 

Sie sehen den Innenraum des Temple de Charenton.

Das Toleranzedikt, das Heinrich IV. 1598 erlassen hatte, und dessen Widerruf, den Ludwig XIV. 1685 verkündete, bestimmten den Zeitraum dieser reformierten Musterkirche:

10 km ausserhalb von Paris durfte sie 1607 erstmals, 1623-25 nach einem Brand abermals gebaut werden. Jacques Androuet du Cerceau war der hugenottische Architekt, derselbe, dem Frankreich Schloss Fontainebleau verdankt, Salomon de Brosse, sein Neffe, hatte die Bauleitung. Unmittelbar nach dem Ende der Toleranz wurde sie geschleift.

Geblieben sind Stiche und Zeichnungen. Diese aber zeigen Typisches für den Geist der Reformierten:

Kein Schiff, nein, eine Aula, einen Hörsaal, eine Rednerhalle,

kein Oratorium, nein, ein Auditorium für 4000 Leute,

keine Chorschranken, nein, ein Forum für citoyens, für Bürger.

Hier sammelt man sich um das Wort.

In Genf war es das Auditoire neben der alten Saint Pierre, wo Calvin die Bibel auslegte, auch ein Ort der Vorlesung und der Anfang der Universität.

Bei den Reformierten ist die Bibel der thesaurus ecclesiae, einen anderen Kirchenschatz brauchen sie nicht.

Die Kanzel markiert die Mitte des Baus und der Gemeinde:

Bühne für die Bibel und Katheder für die Predigt ist sie, der zentrale Ort des reformierten Predigtgottesdienstes.

Kein Priester amtet hier, kein Stand höherer Ordnung mit dem Rücken zum Volk, sondern ein VDM, Verbi Divini Minister und Ministra, moderne Berufsleute im Strassenanzug oder Gelehrtenrock, deren Amt es ist, dem göttlichen Wort zu dienen.

Nichts lenkt hier ab:

kein Bild, kein Fenster, keine Kapelle.

Differenz und Reduktion sind die reformierten Triebfedern:

Unterscheidung vor allem von herrschenden Thronen und römischen Altären, die längst etabliert sind und wetteifern um Macht und Prunk, zugunsten des Einzigen, dem Allmacht zusteht:

Gott.

Rückführung vor allem vom Vielen, das wirklich ist und möglich wäre, zum Einen, das Not tut:

zum Wort.

Differenz und Reduktion schaffen einen Habitus, gezeichnet von Selbstverantwortung und Nüchternheit. Reformierte Nüchternheit ist hier unübersehbar, auf reformierte Selbstverantwortung verweisen die Tafeln:

Es sind die Zehn Gebote, die im Gottesdienst verlesen werden.

So setzt der Innenraum ein weiteres, unübersehbares Signal:

Die Reformierten haben immer Gottesdienst, nämlich Gottesdienst am Sonntag und Gottesdienst im Alltag. Am Sonntag dient Gott dem Menschen mit seinem Wort, das der VDM auslegt und von der Kanzel aus allen mitteilt, die es hören, aufnehmen und aus dem Tempel mitnehmen:

das Wort aus den Wörtern der Bibel, das Evangelium.

Im Alltag aber dient der Mensch Gott mit seinem Leben, indem er seine Arbeit tut, wo Gott ihn hinstellt, sie aber in der Haltung und mit den Tugenden dessen tut, wovon das Gesetz handelt, vertreten durch die Zehn Gebote.

Der Sonntag geht dem Alltag voraus, das Evangelium dem Gesetz, das Hören dem Tun.

Oder mit Calvins Genfer Katechismus von 1545 gesagt:

Zu diesem Zweck hat er uns sein heiliges Wort überlassen.

Es ist die geistliche Lehre, durch die wir wie durch eine Pforte in sein himmlisches Reich eintreten.

Wo müssen wir dieses Wort suchen?

Es ist in den heiligen Schriften enthalten.

Wie muss man damit umgehen, um daraus Nutzen zu empfangen?

Es dient uns nach seiner Bestimmung dann zu unserem Heil, wenn wir es in fester Überzeugung als eine vom Himmel gekommene Gabe in unser Herz aufnehmen, uns als seine gelehrigen Schüler erweisen, Willen und Verstand ihm gehorsam unterwerfen, es von Herzen lieben; wenn es, einmal in unsere Herzen eingedrungen, dort fest wurzelt, um im Leben Frucht zu tragen, und wir schliesslich nach seinem Vorbild gestaltet werden.             (Calvin, Genfer Katechismus; Fragen 300-302)

 

Die erste Erklärung, wieso Glaube bereichert:

Nüchternheit oder die reformierte Kardinaltugend.

Das Schweizer Magazin Bilanz ist theologisch unbelastet, und mit der Kirche hat dieses Wirtschaftsblatt nichts am Hut. In der Ausgabe 5 des Jahres 2005 stand drum Erstaunliches:

Obertitel Ein Oldtimer in voller Fahrt, Untertitel Die Privatbank Pictet (sie ist in Genf zu Hause) feiert dieses Jahr den 200. Geburtstag (ein Familienbetrieb).

 

Die 1805 in Genf gegründete Bank Pictet & Cie zählt mit verwahrten und verwalteten Vermögen von CHF 312 Mrd.
(USD 293 / EUR 211), Stand Ende Dezember 2008, zu den grössten Schweizer Privatbanken. Seit ihrer Gründung konzentriert sich die Bank ausschliesslich auf die private und institutionelle Vermögensverwaltung. Sie betreibt keine Investmentbankgeschäfte und gewährt keine Geschäfts-, Hypothekar- oder Blankokredite
.

 

Was im Internet nicht zu erkennen ist, berichtet die Journalistin vom Besuch bei Ivan Pictet:

Pictet repräsentiert in 19. Generation den traditionsbewussten Privatbankier, wie er im Buche steht. Unaufdringlich schenkt er seinem Gesprächspartner die volle Aufmerksamkeit. Er spricht ruhig und deutlich, ohne grosse Mimik und Gestik. Ein Mann, der sich selbst nicht in Szene setzt und allein durch den Inhalt der Worte überzeugen will. Dezente Manschettenknöpfe und ein goldener Siegelring mit dem Familienwappen unterstreichen das Outfit, das zu sagen scheint:

Understatement macht nur Sinn, wenn es einen Grund zum Tiefstapeln gibt.

Und nun die für Bilanz erstaunlichen Hintergründe:

Neben seinen Erfahrungen prägen ihn Familientradition und Religion:

Die Verbindung zur calvinistischen Religion ist sehr stark, soll Ivan Pictet der Journalistin gesagt haben.

Ein Bruder ist Pastor, was trotz falschem Titel richtig ist, seine Schwester studierte Theologie und ist mit einem Pastor verheiratet. Wie alle Genfer Privatbanken ist auch Pictet bis heute vom calvinistischen Geist geprägt. Ebenso wie Fleiss und Ehrlichkeit ist Bescheidenheit eine Tugend.

Und jetzt die Pointe:

Keiner der Partner käme auf die Idee, sich von einem Chauffeur zur Arbeit fahren zu lassen.    (Bilanz 5/2005; S.48)

 

Auch wenn es ein wenig wie Regenbogenpresse tönt, steckt mehr dahinter, etwa Calvins Katechismus, dessen Anfang genau diesen Ton angibt:

Was ist der Sinn des menschlichen Lebens?

Die Erkenntnis Gottes unseres Schöpfers.

Aus welchem Grund sagst du dies?

Er hat uns geschaffen und in diese Welt gestellt, um in uns verherrlicht zu werden: glorificetur in nobis. So ist es nichts als recht und billig, dass unser Leben, dessen Ursprung er ist, wiederum seiner Verherrlichung diene: in eius gloriam.

(Calvin, Genfer Katechismus; Fragen 1-2)

Leben ist vom Schöpfer gegeben, geführt wird es vom Begabten für die Gloria des Gebers. Calvins Gottesbild ist strikt monarchisch, darin bleibt er der Franzose aus der Picardie:

Gott ist König, sonst keiner.

Gott hat Allmacht, sonst keiner.

Gott kommt Verherrlichung zu, sonst keinem.

Darin liegt ideologiekritisches und religionskritisches Potential:

Es richtet sich nicht nur gegen die Allmachtsbegehren anderer, sondern auch gegen jede Art von eigener Selbstherrlichkeit.

 

Natürlich bezieht sich Calvin auf die Bibel (1.Kor 1,31), auf Jeremias Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn! auf die Warnung des Paulus, sich nicht selbst zu rühmen.

Das wurde nachhaltig als Kardinaltugend der Nüchternheit:

Der Christ stellt seinen Erfolg nicht zur Schau, die Kirche entfaltet keine Pracht und hält nicht Hof, ihre Räume haben keine Schätze ausser dem in der Mitte, die Friedhöfe der Reformierten weisen keine Mausoleen auf.

Decently and in order lautet das populäre presbyterianische Motto der Lebensführung.

Als typisches understatement kommt es bei anderen an.

 

Der Grund zum Tiefstapeln ist mit Händen zu greifen:

Zur selben Zeit, als Spanien, die katholische Grossmacht der Welt, sich kunstgeil im Rausch des Siglo de Oro verströmte, indem sie das gestohlene Gold der Maya, Inka und Azteken nicht etwa kapitalistisch anlegte, sondern nutzlos verbaute, weil Arbeit den Oberen nach alter Ständelehre verwehrt war, zu derselben Zeit akkumulierten und investierten Reformierte ihr Kapital, weil ihnen in Gottes Wort die Selbstdarstellung verboten war.

 

Glaube bereichert, weil Nüchternheit seine Tugend ist.

 

Die zweite Erklärung, wieso Glaube bereichert:

Neuland oder die reformierte Landnahme.

Die Reformationszeit war wohl auch die Epoche einer ungeheuren Ausnüchterung in vielen Bereichen:

Der ausufernde Sakramentalismus des späten Mittelalters, der ganz Europa überwuchernde Reliquienhandel, das Geschäft mit Lebensüberdruss und Höllenangst, die unbändige Sinnlichkeit und Zahllosigkeit der Bilder, das Nebeneinander der Kulte und die Lust auf Synkretismen:

unaufhörliche Redundanzen einer religiösen Besoffenheit. Diese ganze Unkultur und Dekadenz wurde heruntergefahren, kam zum Erliegen und wurde ausgenüchtert:  tabula rasa.

Beim Bildersturm gab es gedanklich wohl zwei Modelle.

Das alte religiöse Modell war gewissermassen homöopathisch und beendete die Magie auf magische Art durch Holocaust:

Nach der Entrümpelung wurde das Gerümpel verbrannt, vergraben, kaputtgeschlagen, jedenfalls totalvernichtet, damit kein Tröpfchen der bösen Säfte vom alten Drachen am Ende überlebe und das Neue und Gute kontaminiere.

Das neue reformierte Modell war gewissermassen allopathisch und beendete die Magie auf nüchterne Art, nämlich durch Reduktion und Differenz:

Man unterschied den Realwert vom Symbolwert, liess den Symbolwert zur Hölle fahren und nutzte den Realwert neu:

Heiligenbilder wurden in Zürich beispielsweise übermalt, Gold und Silber eingeschmolzen und umgegossen, und die Sandsteinplatte vom Altar der Stadtheiligen wurde gar zum Fundament der neuen Kanzel im Grossmünster:

Predigtgottesdienst statt Messopfer, Wort statt Kult.

Die Differenzierung aber von Realwert und Symbolwert verabschiedete die Magie und begann die Aufklärung.

 

Neuland kam aber auch durch Not in den Blick:

Calvins Institutio hat lange Abschnitte zum Bilderverbot.Auch deren Grundzug ist von seinem Gottesbild geprägt:

Weil Gott einzig ist, kann nichts ihn abbilden.

Jedes Bild, das dennoch zur Anbetung bestimmt ist, bedeutet nicht nur, ihm Ehre zu verweigern, was schlimm genug ist, sondern auch, ihm Ehre zu nehmen, was das schlimmste ist.

Kultbilder sind Majestätsbeleidigungen Gottes, sie anzubeten ist  faire deshonneur à sa Majesté (Calvin, Genfer Katechismus; Frage 146).

Die Folgen des Bilderverbots waren enorm:

Für die Zünfte der Maler, Bildhauer, Schnitzer, Giesser bedeutete es den Auszug aus Ägypten, den Verlust der üppig gefüllten Fleischtöpfe, das Wegbrechen ihrer bisherigen Erwerbsgrundlagen.

Doch dann bedeutete es auch die Entdeckung von Neuland, eine Landnahme, die sehr lukrative Geschäfte eröffnete, wie Jan Rohls in einer Notiz bemerkt (Jan Rohls, Zwischen Bildersturm und Kapitalismus; Seite 27).

Zum Beispiel Jan Vermeer, 1632 in Delft reformiert getauft:

 

Seine Perlenwägerin ist eines von 37 bekannten Bildern. Das Gemälde lässt sich auf einen Blick in vier Felder teilen:

Vom Bild hinten rechts an der Wand kommt die Gliederung. Auf ihm hat Vermeer pfiffig das Verbotene dargestellt:

Christus als Weltenrichter, Gute hinauf, Schlechte hinab, die bekannte apokalyptische Szenerie des Jüngsten Gerichts. Der junge Kopf vor der alten Leinwand aber ist marianisch:

das Gesicht hingegeben wie bei der reinen Magd, der Bauch gerundet wie schwanger im achten Monat, das Kopftuch weiss wie der Nimbus der Gottesmutter, die Jacke mit Hermelinbesatz wie bei der Himmelskönigin. Genau im Schnitt der Diagonalen das Symbol der Waage, hier die feine Unzenwaage für das Geschäft dieser Frau. Perlen, die bereits abgewogen sind, blinken im Halbdunkel. An der Wand zur Linken hängt lockend ein Spiegel, in den sie nicht schaut, denn nicht sie, sondern ihr Tun zählt. Vor dem Hintergrund der himmlischen Gerechtigkeit, über die vielleicht der Pfarrer am Sonntag gepredigt hat, übt sie die irdische Gerechtigkeit in ihrem Alltag, bei ihrer Arbeit, zu der Gott sie bestellt hat. Eine Justitia, die nicht sich, sondern ihre Aufgabe im Blick hat, eine Maria, die nicht nach Andacht oder Anbetung verlangt, sondern auf das Kommen der Gerechtigkeit verweist, die sie gerade austrägt und bereits übt.

Vermeer hat die Kunstgattung der Genremalerei entwickelt, das religiöse Kultbild durch das reformierte Denkbild ersetzt.

 

Zum Beispiel Francesco Codino, der vermutlich als Francois Godin aus Flandern kam, bei Daniel Soreau lernte, der aus Antwerpen stammte, mit ihm auch Sebastian Stoskopff aus Strassburg. Alle drei gehörten zur wallonischen Gemeinde von Hanau, ein Refuge für Glaubensflüchtlinge in der Neustadt, eine Gilde der jungen, neuen Maleravantgarde: Die drei haben die neue Gattung des Stillebens stark geprägt.

 

Auch sie hat ihre Wurzeln im verbotenen religiösen Kultbild. Aus der Madonnenlilie in der Szene der Verkündigung wurde der Blumenstrauss von des Schöpfers Gärten und Wiesen:

verschwunden der Engel und die Heilige, geblieben die Vase als das aufgeschlagene Buch der Natur, das für 150 Jahre neben dem Buch der Bibel liegen wird. Aus dem Brotteller in der Szene des Abendmahls wurden der Früchtekorb, das Tranchierbrett, die Küchenanrichte voll des Segens der Erde, ein Psalm 104 in Farbe:

verschwunden Jesus und die Jünger, Kelch und Wein, geblieben die Köstlichkeiten, die des Menschen Herz erfreuen. Ob Stilleben oder Genreszene, Seestück oder Portraitmalerei:

Not zwang Reformierte zum Auszug aus Stammlanden, und nach vierzig Jahren der Suche kamen sie zu Neuland, in dem sie nach und nach mit neuen Produkten prosperierten. So die Maler in den nördlichen Niederlanden, so die Handwerkerelite der Hugenotten im deutschen Refuge, so die Puritaner in Neuengland und die Siedler in Südafrika. Das puritanische Experiment der Pilgrim Fathers and Mothers, aus dem die reichen Neuenglandstaaten hervorgegangen sind, stand unter der Vision A City on a Hill (Mt 5,14):

Sie schlossen einen Bund mit Gott und mit sich, als sein Bundesvolk leben und arbeiten zu wollen, im Land, das er ihnen verheissen und in das er sie geführt hat, im Geist der Bibel, des Evangeliums und der Bergpredigt. Neuenglands Licht sollte weitherum leuchten, am liebsten übers Meer bis nach Altengland:

Gewiss, die Stadt auf dem Berg ist nicht verborgen geblieben, und selbst die kleine Wall Street kennt heute jedes Kind.

 

Glaube bereichert, weil Reduktion und Differenz inspirieren.

  

Die dritte Erklärung, wieso Glaube bereichert:

Erkenntnis oder die reformierte Aufklärung.

 Calvins Institutio von 1559 beginnt mit einer Sensation, derselben wie schon sein Genfer Katechismus von 1545:

All unsere Weisheit, sofern sie wirklich den Namen Weisheit verdient und wahr und zuverlässig ist, umfasst im Grunde eigentlich zweierlei:

die Erkenntnis Gottes und unsere Selbsterkenntnis.

Diese beiden aber hängen vielfältig zusammen, und darum ist es nun doch nicht so einfach zu sagen, welche denn an erster Stelle steht und die andere aus sich heraus bewirkt.  (Calvin, Institutio I/1.1)

Die Schwierigkeit führte Calvin zu drei schweren Büchern, zur grössten und nachhaltigsten Dogmatik der Reformation.

Doch wo liegt die Sensation?

Im antiken Orakel von Delphi war es der Gott Apollo selbst, der dem Pilger von einer Säule herab zuraunte:

gnothi sauton, Erkenne dich selbst!

Wohl in der Absicht, ihn auf sich selbst zurückzuwerfen:

Angesichts der Erhabenheit und Ewigkeit der Götter bist du, Mensch, ein Erdenzwerg, sterblich und vergänglich, und das Erhabenste, das du erkennen kannst, ist eben dies, und dazu, dass mehr zu erkennen, dir nicht möglich ist. Das Motto von Delphi markiert die unüberbrückbare Kluft, die zwischen Göttern und Menschen klafft, und es schürt in jedem den unverlöschlichen religiösen Drang, Mittel zu finden, wie er doch noch göttlich werden könnte. Erkenntnis bleibt dualistisch.

 

In der christlichen Dogmengeschichte des Mittelalters, beim alten Migne freilich eine mehrhundertbändige Bibliothek, scheint mir die Frage des Menschen zu dominieren:

Was kann ich tun, dass dieses Leben im Endlichen vergeht und Gott mich gnädig bei sich im Unendlichen aufnimmt?

Selbsterkenntnis bleibt Erkenntnis niederer Vergänglichkeit, Gotteserkenntnis bleibt Erkenntnis höherer Unvergänglichkeit. Die Stufen der Demut in Benedikts Regel zeigen die Richtung:

je weniger Ich, desto mehr Er, mein Abnehmen ist sein Zunehmen, eine Jakobsleiter von unten nach oben.

Der Mensch steigt den Engeln nach.

Erkenntnis bleibt dualistisch.

 

Bei Calvin hingegen wird Erkenntnis dialektisch:

Selbsterkenntnis als griechische These und Gotteserkenntnis als biblische Antithese werden zur reformierten Synthese, die Sensationelles freisetzt. Beiderlei Erkenntnis ereignet sich zugleich und gebiert Neues:

Das erste:

Erkenntnis bedeutet weder, dass alles bleibt, wie es ist, der Mensch vergänglich und voll Sehnsucht, die Götter aber ewig und voll Geschäftssinn – noch bedeutet Erkenntnis, dass Gott Mensch wurde, damit der Mensch göttlich würde.

Nein, Gott ist Mensch geworden damit der Mensch Mensch werde und gut zu leben wisse.

Das zweite:

Erkennen geschieht im Einzelnen und ist nicht delegierbar.

Reformierte lassen nicht glauben, sondern glauben selbst, daher lassen sie auch nicht denken, sondern denken selbst.

Nicht dass Calvin das Individuum erfunden hätte, aber das religiös aufgeklärte Individuum hat er befördert.

Das dritte:

Das gläubige Individuum, das erkennen will, muss lesen, soll das Wort in den heiligen Schriften finden können.

Damit fielen Privilegien kirchlicher Hierarchien:

Die Bibel für alle,

das war die Demokratisierung des thesaurus ecclesiae!

Lesen und Schreiben für alle,

das bedeutete breite Bildungsarbeit für Männer und Frauen!

Umfassende Erkenntnis für alle,

das führte zur Gründung Hoher Schulen und Universitäten!

 

Reformierte Milieus sind Kulturen des Erkennens, Kulturen des Lesens und Wissens, Kulturen des Buchs:

Der Académie Française des Kardinal Richelieu von 1635 ging ein Lesezirkel reformierter Pariser Akademiker voraus.

An jedem Green, der Allmend in einer neuenglischen Stadt, stand eine Public Library mit günstig erwerbbarem Wissen:

fürs Vieh die Wiese, fürs Volk das Buch.

Die Alphabetisierung Neuenglands war im 17. Jahrhundert mit 89-95% der Männer und 62% der Frauen fast doppelt so hoch wie diejenige im alten Merry England.  (Neil Postman, Wir amüsieren uns zu Tode; Seite 46)

Was in der Redundanz der Informationsgesellschaft zur mühevollen Last verkommen ist und Reformierte heute nur allzu oft weinerlich beklagen, stets lesen und hören, nachdenken und mitreden zu müssen, war in der Epoche der Reformation eine Revolution von unten.

 

Damals war man die Avantgarde:

 

 

Das zweite Stilleben stammt von Sebastian Stoskopff. 1597 in Strassburg geboren, 1619 Atelierchef in Hanau, nachdem Daniel Soreau, sein Lehrer, gestorben war. Gemalt hat er es vermutlich 1630 in Paris, von wo er 1639 zurück nach Strassburg floh. Es gehört zu einem Zweig des Stillebens: dem Vanitas-Bild. Antike Selbsterkenntnis, das zugeraunte gnothi sauton Apolls, lenkt hier den Blick auf den Totenschädel in der Mitte, die verstreichende Zeit links, den verglimmenden Docht rechts. Mittelalterliche Gotteserkenntnis, das Bemühen der Theologie, vermittelt im Hintergrund, zerknittert, vergilbt und abgerissen, die herausgerissene, kaum lesbare Seite aus einem Almanach:

Für 1630 verkündet er ein An de Grace, ein Gnadenjahr. Gewiss im Rückgriff auf den Dritten Jesaja (Jes.61,1-2) wo ein Gesalbter den Elenden frohe Botschaft verspricht, Heilung für Gebrochene und Befreiung für Gefesselte, insgesamt ein Jahr des Wohlwollens Jahwes, wie es heisst.

Gewiss im Rückgriff auf die Antrittspredigt Jesu (Lk. 4,16-21), für die Lukas ihn als genau diesen Gesalbten darstellt, der vor dem neuen Gottesvolk proklamiert:

Heute ist dieses Schriftwort erfüllt.

Im Staunen der Leute schwingt als blue note die Skepsis mit:

Ist das nicht der Sohn Josefs?

Mir ist, als wollte der maltraitierte Zettel hinten links mahnen:

War das nicht die Vertröstung der Kirche seit 1600 Jahren?

Einer Kirche, die das Seelenheil des Menschen verwaltete, für ihn die Buchhaltung über Sollen und Haben führte, ihn in offiziellen Gnadenjahren mütterlich auf den Arm nahm während sie ihm sonst väterlich mit dem inferno drohte?

Sicher, der Mensch ist vergänglich, sagt mir Stoskopffs Schädel stumm, aber die Bibel, in der er liest, die trägt ihn, das Bekenntnis, das er spricht, das sichert ihn, der Genfer Psalter, aus dem er singt, der tröstet ihn, ihn und die Gemeinde, in der er lebt.

Ist nicht beim biblischen Kohelet, dem Prediger Salomos, dessen Motto zwar die vanitas ist, auch zu lesen (Koh. 3,11):

Alles hat er, Gott, so gemacht, dass es schön ist zu seiner Zeit. Auch die ferne Zeit hat er den Menschen ins Herz gelegt, nur dass der Mensch das Werk, das Gott gemacht hat, nicht von Anfang bis Ende begreifen kann.

Solange Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis in eins gehen, sind die Grenzen des Begreifens und des Lebens annehmbar:

Der erkennbare Gott macht den erkennenden Menschen weise, und zur Weisheit gehört die Einsicht in Grenzen, die den erkennenden Geist zwar nüchtern macht, dem reformierten Habitus, erkennen zu dürfen und zu wollen, aber solange kein Ende setzt, wie Erkenntnis der Verherrlichung des Schöpfers dient.

 

Glaube bereichert, weil Erkenntnis neue Perspektiven öffnet.

  

Die vierte Erklärung, wieso Glaube bereichert:

Heiligung oder der reformierte Lebenswandel.

Ein Zitat (Ursula Michels-Wenz, Feuer der Seele; Seite 9):

Was ich suche, ist das Allernötigste, um zu leben, was jedoch darüber hinausgeht, lässt mich ziemlich kühl.

Was ich gern haben möchte, ist ein fester Wochenlohn wie andere Arbeiter auch, und dafür will ich arbeiten, mit all meiner Kraft und meinem Verstand. Und da ich ein Arbeiter bin, gehöre ich in den Arbeiterstand und werde mehr und mehr darin leben und mich in ihm einwurzeln.

Der dies in einem Brief geschrieben hat, ein Reformierter, der seine Bibel kannte, das Shma Jisrael etwa, das im Deuteronomium auffordert, Gott zu lieben, nämlich von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit deiner ganzen Kraft (Dtn. 6,5), war wohl einer, der seine Arbeit liebte, wie er seinen Gott liebte, wohl etwas gar zu puritanisch.

Dass er wahrlich ein reformiertes Arbeitsethos gelebt hat, geht auch aus diesem Brief hervor (Seite 11):

Ein Sieg, den man mit einem ganzen Leben von Arbeit und Anstrengung bezahlen muss, ist besser als einer, der schnell davongetragen wird.

Der so lebte, dachte, arbeitete, würde heute Millionen verdienen mit seiner Arbeit:

 

Vincent van Gogh, dessen Sämann von 1888 jeder kennt.

Wo im Kultbild der Nimbus sitzt, die Aura, der Heiligenschein, den die Kirche jemand in einem Prozess zugesprochen hat, da malt van Gogh die Sonne als Geschöpf des Schöpfers, der im Frühling die Erde segnet, damit die Saat aufgehe:

Dass Arbeit auch Früchte trägt, macht Gottes Segen.

Waren es in der ständischen Welt des Mittelalters Besondere, die den himmlischen Stand der Heiligen bildeten, die Belletage in der Jenseitsarchitektur der Heilsspekulanten, so heiligt van Gogh hier die gewöhnliche Arbeit des Bauern, der mit all seiner Kraft und seinem Verstand, dort seine Arbeit tut, wo sein Schöpfer ihn hingestellt hat,

zur Verherrlichung des Schöpfers, wie Calvin sagt.

Nicht die zugesprochene Heiligkeit der Vergangenen, die längst schwerelos die Inseln der Seligen bevölkern, sondern die gelebte Heiligung der Gegenwärtigen, die ihrer eigenen Gesellschaft auch Vorbilder sein können, bildet bei den Reformierten die Gemeinschaft der Heiligen.Arbeit ist Gottesdienst im Alltag, wie ihn die Bibel fordert, ist innerweltliche Askese, wie Max Weber sie 1905 nannte, ist ora et labora, aber ohne die Leiter Jakobs und Benedikts.

Ob der reiche Bankier Ivan Pictet 2005 in Genf oder der arme Maler Vincent van Gogh 1888 in Arles:

Beide verstehen sich als Arbeiter am ihnen bestimmten Ort, und beide haben eine reformierte, asketische Arbeitsmoral, und beiden liegt die öffentliche Selbstdarstellung fern. Von den Auswüchsen des angeblichen Calvinismus aber, die Max Weber insbesondere in seinen Fussnoten schildert und die man in niederländischen Romanen beschrieben findet, von dieser inspirationsarmen Orthodoxie und Restauration aus auf Calvin zu schliessen, halte ich theologisch für ebenso falsch und absurd wie, von der in Franken oder Gulden messbaren Prosperität aus auf die Erwähltheit eines Pictet oder van Gogh zu schliessen. Schon der verrückte Marktwert des Säemanns spricht dagegen, und Calvin selbst hat derlei Rückschlüsse ausgeschlossen.

 

Glaube bereichert, weil Arbeit unter Gottes Segen steht.

 

Die fünfte Erklärung, wieso Glaube bereichert:

Vorsehung oder der reformierte Vorbehalt.

Schweizerinnen und Schweizer kennen ihren Foifliber, das Fünffrankenstück, das es im Land der Älpler, zählebig und dickköpfig, schwerflüssig und beständig, nach wie vor mit dem Luxus einer eigenen Landeswährung, schon seit Ewigkeiten in derselben Prägung gibt. Doch wenige nur kennen das Motto auf seinem Rand, und noch viel weniger wissen, woher es stammt. Das Motto währt schon lange und ist selbst eine Währung, der Lesbarkeit halber und weil wir hier in Berlin sind, auf einer Berner Münze von 1798 und mit dem Berner Bär:

Dominus providebit ist das Motto: Der Herr wird voraussehen.

Da haben wir sie, die ominöse Providentia Dei, wo man sie kaum vermuten würde, die Vorsehung Gottes gar als landesübliches Zahlungsmittel. Woher kommen das Motto und die Vorstellung?

Fündig wurde ich in der Vulgata, der lateinischen Bibel:

Abraham, bei der Probe, auf die Gott ihn stellt, hat alles fürs Opfer bereitet:

den Altar gebaut und das Holz gespalten,

das Feuer entfacht und das Messer zur Hand.

Da wundert sich Isaak, der Sohn, wo nun das Lamm bleibe.

Abraham sprach, heisst es da (Gen. 22,8):

Gott selbst wird sich das Lamm für das Brandopfer ausersehen, lateinisch Deus providebit sibi victimam holocausti.

Klar, dass allegorische Auslegung hier den Christus erkennt, das Lamm Gottes, das unschuldig der Welt Sünden trägt, den Sohn Gottes, der stellvertretend den Holocaust erleidet, die Totalvernichtung als Opfer am Kreuz.

So hat die Providenz aber schon hier zwei Seiten:

die unerträgliche, für die der alttestamentliche Text steht, dass Gott tatsächlich erwählt und sich einen ausersieht, und die ebenso belastende wie befreiende des Evangeliums, dass der Holocaust am Kreuz für immer das letzte Opfer war und aus der Providenz des Todes jeder ausgelöst ist, der dem Wort glaubt und das Wort lebt:

Am Kreuz stirbt die Providenz zum Tod.

So erinnert mich mein Foifliber, wenn ich glaube, an meine Bestimmung zum Leben, während er mir, wenn ich nicht glaube, höllisch heiss zwischen den Fingern brennen sollte.

 

Calvin widmet der Vorsehung ein ganzes Kapitel, daraus nun die Kerngedanken (Institutio I/16):

Erstens ist Gott mit seiner Schöpfung nicht fertig, sondern wirkt als Schöpfer in jeder Gegenwart fort.

Zweitens ist Gott in seiner Vorsehung der ständige Lenker und Erhalter der Schöpfung.

Drittens ist Gott als der Allmächtige derjenige, dessen Hand die Haare auf unserem Haupte alle zählt:

Er heisst deshalb allmächtig, weil er Himmel und Erde mit seiner Vorsehung lenkt und alles so einrichtet, dass nichts ohne seinen Willen geschieht. (I/16,3)

Viertens besteht Vorsehung nicht im Vorherwissen Gottes, sondern in seinem beständigen und allumfassenden Wirken, ein Gedanke, den Calvin der Abrahamgeschichte entnimmt.

Fünftens bleibt des Menschen mögliche Einsicht in die wirkliche Vorsehung Gottes beschränkt, ein Gedanke, den Calvin dem Prediger Salomos entnimmt:

Nur dass der Mensch das Werk, das Gott gemacht hat, nicht von Anfang bis Ende begreifen kann.

Vorsehung bei Calvin ist also völlig schöpfungsorientiert, setzt ein monarchisch-absolutistisches Gottesbild voraus und hat ihre Verifikationen ausschliesslich in der Bibel!

 

Max Weber, der Urheber der These, Calvinismus und Kapitalismus gehörten ursächlich zusammen, referiert gleich auch selbst die Ablehnung Calvins, mittels Rückschluss Verifikationen auch im Leben zu finden:

Er verwirft prinzipiell die Annahme:  man könne bei anderen aus ihrem Verhalten erkennen, ob sie erwählt oder verworfen seien, als einen vermessenen Versuch, in die Geheimnisse Gottes einzudringen. (Max Weber, Protestantische Ethik 2/127)

Dennoch baut Webers These einzig auf den Rückschluss, der allerdings, horribile dictu, auch reformierte Wurzeln hat:

Die Synode von Dordrecht hat 1619 nicht nur die doppelte Prädestination sanktioniert, sondern fatalerweise auch, ich zitiere, die untrüglichen Früchte der Erwählung eingeführt (1,12) und so der puritanischen Sozialkontrolle Tür und Tor geöffnet:

Für diejenigen aber, die Gott und unseren Heiland Jesus Christus nicht achten und sich den Sorgen der Welt und den Lüsten des Fleisches völlig hingeben, ist diese Lehre mit Recht schrecklich, solange sie sich nicht ernstlich zu Gott bekehren. (1,16)

Damit brachte die Orthodoxie ihren Meister in Verruf:

Diese Früchte sind giftig und stammen von der Schlange!

Dieser Irrlehre hat Christus längst den Kopf zertreten!

Es ist die uralte und ewigjunge Versuchung, den Sinn des Herrn zu erkennen und sein Ratgeber zu sein.

 

Webers These ist so einfach wie einleuchtend:

Während der Katholik für sein Seelenheil eine krisensichere himmlische Buchhaltung hat, seinen Kontostand durch gute Werke beeinflussen kann und von seiner Kirche jederzeit einen Kontoauszug erhält, fehlen dem Protestanten alle Indikatoren, die hard core facts dafür, ob er nun zu den Erwählten oder zu den Verworfenen zähle, die notwendige Schwäche des endlichen Individuums, das den unendlichen Gott und sich selbst nur biblisch erkennt. Es sei denn, es erliege der Versuchung des alten Adam und vergreife sich an der giftigen Frucht des Rückschlusses, um seinen Gnadenstand fortlaufend zu kontrollieren.

Dafür waren sie findig, die reformierten Fundamentalisten:

Kirchenzucht und Visitation, Tagebücher und Tugendtabellen. Glaube einmal mehr als das Geschäft von Schulmeistern, Krämern und Buchhaltern. So wurde auch diese Revolution von ihren Enkeln gefressen.

 

Max Webers These hat viel für sich und ist gut belegt, nur erklärt sie nicht den ganzen Werdegang des Kapitalismus, und mit Calvin hat dieser Calvinismus so wenig zu tun, wie der gegenwärtige Marxismus Nordkoreas mit Marx:

Dominus providebit ist mit Calvin die Währung des Glaubens und gegen den Calvinismus keine Währung des Schauens!

 

Irregeleiteter Glaube scheint zu bereichern, weil er vom Wohlstand auf Erwählung schliesst. 

 

 

Zuletzt noch ein kleines anschauliches Nachspiel:

 

Dieses dritte Stilleben stammt von Vincent van Gogh:

Wie im Vanitas-Bild die Vergänglichkeit des Kerzenhalters, doch nun ist der Docht verglommen, während die Bibel weit aufgeschlagen zum Lesen einlädt, beim Propheten Isaie, wie man auf manchen Wiedergaben gerade noch ahnen kann:

Ob nun die Verheissung dem Volk gilt (Jes. 9,1) das in der Finsternis geht und im Land tiefsten Dunkels lebt, oder dem Zion, der identisch ist mit Abrahams Moria, und sich aufmachen und licht werden soll (Jes. 60,1):

Es wird ein Text des Lichts und der Verheissung sein, der kommenden Zeit des Schauens nach der des Glaubens.

 Wie im barocken Vanitas-Bild des Sebastian Stoskopff ist auch in dem van Goghs noch andere Lektüre zu sehen:

Gerade noch kann man La joie de vivre erkennen, Emile Zolas Roman Die Freude am Leben:

Darin geisselt er die Ichbezogenheit und Profitgier der Zeit, die Dekadenz der bürgerlichen Gesellschaft. Im Kontrast dazu steht die reine Seele einer jungen Frau, die Nächstenliebe und Barmherzigkeit übt, nach und nach alles verliert, aber charakterlich den maroden Materialismus überragt:

Sie hatte alles hergegeben, und ihr klingendes Lachen verkündete das Glück.

 

Übrigens:

Der Roman von Zola erschien 1884, und das Gemälde van Goghs entstand 1885.

Lesen ist ein reformierter Habitus.

La joie de vivre auch?

Zuhören sicher!

 

Ich danke Ihnen dafür.

 

© Matthias Krieg

 

 

 

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Stand: 19. Februar 2020

 

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