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Drucksache oder lebendiges Wort?

.... über das Heilige an der "Heiligen Schrift"

 

Dieter Andresen

 

Resumée eines Vortrags in der Akademie Sankelmark am 12. Dezember 2000, abgedruckt in: Brief aus dem Bibelzentrum 2000, Nordelbisches Bibelzentrum, St. Johanniskloster, 24837 Schleswig, 20–24.

Diese Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion von Texte und Kontexte. Exegetische Zeitschrift, Heft 1/2001, S. 3-12.

 

Martin Buber, der jüdische Religionsphilosoph und "Verdeutscher" der hebräischen Bibel, nennt in einem Aufsatz von 1936 (Der Mensch von heute und die jüdische Bibel) als Hauptmotiv seiner Übersetzungsarbeit: "Zur Gesprochenheit wollen wir hindurch, zum Gesprochenwerden des Worts." Er erinnert an die Tatsache, daß die Texte der Bibel zuerst mündlich überliefert wurden. Auch später haben sie vor allem im mündlichen Sprechen und Zuhören als Sprechen Gottes gewirkt. Was aber im Sprechen entstanden ist, kann nur im Sprechen je und je wieder leben. Ein angemessener Umgang mit der Bibel geschieht dort, wo sie nicht als Privat-Lektüre vereinnahmt, sondern in der Gemeinde hörend empfangen wird. Von dieser Einsicht sieht Buber den modernen Menschen entfernter denn je. In seinem Drang, sich alles und jedes gedanklich anzueignen – zur Erbauung und Steigerung seines Ich –, hat er sich auch der Bibel bemächtigt. Unfähig zur Wahrnehmung des Fremden, unwillig, etwas anderes ernst zu nehmen als sich selbst, zieht er die Schrift ins angeblich Bekannte, in Wahrheit nur eben Geläufige, benutzt er sie zur Bekräftigung seiner mitgebrachten Einstellungen. So kommt es in der Neuzeit zwar zu inflationärer Bibelproduktion und Bibelverbreitung – parallel dazu wächst aber mit gleicher Rasanz die Bibelentfremdung. Denn genau diesem Geist der Aneignung und Bemächtigung verweigert sich das biblische Wort. Es entzieht sich verfügendem Zugriff, wird unter ihm leblos und stumm. Was einmal Stimme war, wird zum "Text" unter Texten, zur "Drucksache" – ständig umrauscht von einer "stimmlosen theologisch-literarischen Beredsamkeit" (Buber), die den Anschein von geistigem Leben erweckt, in Wahrheit aber nur Inkompetenz und Ahnungslosigkeit gegenüber der Bibel bezeugt. Was Buber 1936 wahrnahm, trifft heute erst recht zu. Nur, daß das Rauschen matter, die Beredsamkeit flacher geworden ist. Der Gegenwartsmensch, frustriert vom Versuch, die alten Texte "zum Reden zu bringen" (d.h. sie das sagen zu lassen, was er schon weiß), verliert das Interesse. Daraus, daß ihm die Empfangsorgane für ihre spezifische Botschaft verkümmert sind, schließt er, daß die Bibel "nichts mehr zu sagen" hat und kehrt ihr den Rücken. Daran werden auch hektische Verkaufsstrategien kaum etwas ändern. Die Prachtbibel im Supermarkt, Knast-Bibel, Trucker-Bibel, Quadro-Bibel, Bibel-Bike, Bibel-Crash, Bibel-Comic, Bibel-CD – mit und ohne Spätschriften und Suchprogramm – das ist wohl interessant und immer noch marktgängig, wirkt aber zunehmend wie Schlußverkauf. Den Abwärts-Trend für die Bibel, ihr Versinken im Schlund kollektiver Traditionsvergessenheit wird das alles nicht stoppen. Ein Beispiel für inkompetenten Umgang mit der Bibel auf der Ebene des gehobenen Feuilletons: Da erscheint ein Bibel-Projekt in 12 Taschenbüchern als Kassette. ("Fischer-Taschenbuch", Frankfurt a.M. 2000, 49,90 DM). Schon die Auswahl zeigt modernistische Willkür. (Nur zwei Bücher Mose, zwei Paulusbriefe, kein Psalter, keine Propheten, Johannes- und Lukasevangelium fehlen, dafür natürlich das Hohelied, Prediger Salomo, Hiob, aber auch die Apokalypse). Irgendein Herausgeberteam befindet da, welche Teile aus dem Gesamt-Corpus dem Leser zuzumuten sind und welche er ohne Not ignorieren soll. Hier fehlt jedes Gespür für die Einsicht, daß dies Corpus als Ganzes auf Offenbarung verweist, von ihr her komponiert ist, und daß seine Einheit sich nur erschließt, wenn jedes seiner Teile als Glied am Gesamt-Leib begriffen ist. Mit Martin Buber gesagt: "Es gibt kaum irgendeinen Teil, kaum irgendeine Stilform der Schrift, die nicht unmittelbar oder mittelbar an die Botschaft gebunden und von ihr getragen wäre." Diese Zusammenhänge sind vorgegeben. Wer sie ignoriert und das Ganze in angeblich "genießbare" Häppchen zerlegt, verkauft irgend etwas, nur nicht biblische Texte. (Ganz abgesehen davon, daß die bevorzugten Häppchen kaum leichter verdaulich sein dürften als die verschmähten!) Verräterisch auch das Vokabular, mit dem die jeweiligen Geleitwort-Autoren ihre Häppchen bepreisen. Der Leser soll die "Intensität" des vagabundierenden Jesus erleben, von der "Kühnheit" des Römerbriefs und dem "Genie eines Paulus" beeindruckt sein oder die "altertümliche Wucht" der Luther-Übersetzung würdigen. So wirbt man für Denkmäler der Antike, deren archaischer Reiz dem verwöhnten Gaumen heutiger Kultur-Menschen schmackhaft gemacht werden soll. Daß biblische Texte von alledem auch etwas haben, ist unbestritten. Aber es ist gerade nicht das, was sie zu biblischen Zeugnissen macht. Die Sprache der Waren- und Werbewelt ist gerade hier nicht am Platz. Ob im Erd- oder Obergeschoß des Kulturmarktes: die Bibel als Ware, als Literatur, als Konsumgut für den groben oder feinen Geschmack, ist jedenfalls nicht die Bibel, die spricht und gehört werden will. Was sie wirklich zum "Buch der Bücher" macht, worin sie mit keinem Literaturwerk vergleichbar ist – anders gesagt: was ihre Heiligkeit ausmacht, wird durch ihre Vermarktung nur zugedeckt, nicht erschlossen. Damit sind wir beim Thema! Gefragt ist nach dem, was die Bibel von anderen Zeugnissen unterscheidet – nicht nach dem, was sie mit ihnen gemeinsam hat. Das wäre ein anderes Thema, ein unendlich behandeltes obendrein. Historische Kritik, Altertumsforschung, Religionswissenschaft, Sozial- und Kulturgeschichte der letzten Jahrhunderte haben es bis zur Erschöpfung traktiert, haben eine Riesenmenge von Fakten, Befunden, Parallelen, Analogien zutage gefördert. Wir können dafür nur dankbar sein! Unser Bild von der Bibel als historischer Urkunde ist klarer, genauer und differenzierter geworden, hat an Tiefenschärfe gewonnen. Wir können einfach viel mehr von ihr wissen als frühere Generationen. Es ist wahrlich nicht nur Hypothesengestrüpp und Stochern im Nebel, was sich auf diesem Feld tut! Aber das Rätsel Bibel ist mit alledem nicht gelöst – es ist eher noch größer geworden.

 

"Heilig" – was ist das?

Also noch einmal: was ist das Spezifische, das Unvergleichbare an diesem Buch? Was rechtfertigt seine Benennung als "Heilige Schrift"? Eine Vorverständigung darüber, was wir hier "heilig" nennen, ist dazu unerläßlich. Das Wort "heilig" gehört seinem Ursprung nach in die Sphäre der Religion. Als "heilig" benennt der religiöse Mensch aller Zeiten und Zonen den Inbegriff des Vollkommenen, das Unsagbar-Erhabene, die Fülle des Guten, die unantastbare Reinheit schlechthin. Also das, was seine Wirklichkeit übersteigt, transzendiert, was nur an ihren Grenzen mit Ehrfurcht und Schauder erahnt werden kann. Alles, was er in seiner begrenzten Existenz sich erträumt, sich ersehnt und doch schmerzlich entbehren muß – in diesem Inbegriff kommt es zusammen! Kann er es schon nicht erreichen, so will er es doch wenigstens verehren, will durch Anbetung teilhaben an seiner Sphäre, auch wenn ihm dadurch die eigene Nichtigkeit nur noch schärfer bewußt wird. So respektiert er die Scheidung von "heilig" und "profan" – das Urmotiv aller Religion – für ihn ein Weg, das Deprimierend-Unzulängliche seiner Existenz auszuhalten. Der Begriff des Heiligen nimmt Maß an den Höhen des Lebens. Religion ist auf Lebenssteigerung aus, auf Verherrlichung dessen, was als groß, schön und mächtig erfahren wird: Naturkräfte, Eros, Ganzheitserleben, kosmische Energie, aber auch Manifestationen menschlicher Klugheit und Kraft, Persönlichkeit, Charisma, Leistung, Erfolg, Spitzenleistungen der Moral oder der Kreativität. All das bekommt für den religiösen Menschen sakrale Qualität. Vor alledem wirft er sich gern in den Staub, mit der fanatischen Inbrunst, in der Sehnsucht und Selbsthaß sich merkwürdig mischen. Fragen wir nun die Bibel, was sie unter "heilig" versteht, so müssen wir auf der ganzen Linie umdenken. Zu alledem, was in der Welt der Religion "heilig" heißt, fährt die Bibel das Gegenprogramm. Kreaturvergötterung findet nicht statt. Verherrlichung von Menschen ist unangebracht. Menschen sind – auch da, wo Spitzenleistungen erbracht und anerkannt werden – notorisch gewöhnliche Menschen! Natur und Kosmos sind "Welt", und das heißt: nicht göttlich, sondern geschaffen, vergänglich, abhängig, angewiesen auf ein Jenseits ihrer selbst. Die Profanität ist profan und nichts weiter. Sakrale Qualität hat sie nirgends und nie in sich selbst, sondern nur da, wo Gott, der allein Heilige, sie ihr je und dann zukommen läßt – anders gesagt, wenn ER einen Ort, eine Tat, einen Menschen "heiligen" will. Damit ist schon gesagt: "Heilig" ist in der Bibel keine Eigenschaft, kein Zustand, sondern ein Vorgang. Das Stammwort des hebräischen qadosch ist ein Tätigkeitswort. Gott "heiligt" z.B. einen Menschen, indem er ihn absondert, beauftragt, mit Beschlag belegt für eine bestimmte Aufgabe. "Heiligung" heißt nicht, daß etwa einem Menschen eine göttliche Qualität übertragen wird, die ihm nun als character indelebilis lebenslang anhaftet. Er hört durch diesen Vorgang nicht auf, ein "gewöhnlicher Mensch" zu sein. Die Beauftragung kann befristet sein, kann ihrem Träger auch wieder genommen werden. Entsprechend können auch Zeiten und Orte "geheiligt" werden, d.h. ausgesondert, um Zeichen einer bestimmten Absicht oder Zuwendung Gottes zu sein. Sie verändern sich dadurch nicht. – Mögen Menschen in ihrem Verehrungsdrang ihnen Numinoses andichten, soviel sie wollen! Der Wüstensand, auf dem Mose steht, als ihm zugerufen wird: "Ziehe deine Schuhe aus, denn der Ort, auf dem du stehst, ist heiliges Land" (2 Mos 3,5) bleibt gewöhnlicher Sand, der beim nächsten Sturm seine Lage verändert. Der Hain Mamre, wo Abraham sein Zelt aufschlug, bleibt auch nach dem Besuch der drei Gottesboten ein gewöhnlicher Wald und wird kein "heiliger Hain". Das "Zelt der Begegnung" kann abgebrochen , der Tempel in Jerusalem kann zerstört werden. Nicht die Orte selbst sind heilig – selbst wenn sie Sinai oder Horeb heißen. Geheiligt werden sie durch das, was darin geschieht – von Gott her geschieht, nicht auf Grund der Veranstaltungen seiner kultischen Diener, die darauf nur antworten können. Angewandt auf die Bibel: Nicht an der Torarolle selbst haftet magisch-dingliche Heiligkeit. Nicht am Codex als solchen, nicht am Buch zwischen zwei Buchdeckeln, ob in einschüchterndem Schwarz mit Goldkreuz oder ehrwürdig-alt, in Leder, mit Messingbeschlägen. Geheiligt kann auch die Bibel nur werden im Augenblick ihrer Öffnung, wenn das Schriftwort "zur Sprache kommt" und als "Sprechen Gottes" gehört wird. Grundsätzlich gilt: Der biblische Gott setzt nicht bei den "Höhen" an. Er bestätigt nicht die Gipfelerfahrungen und Steigerungswünsche des homo religiosus. Im Gegenteil: er durchkreuzt sie. Er zeigt sich als Spielverderber, wo immer die Selbstinszenierung menschlicher Größe sich anbahnt. Er sabotiert jede Form der Sakralisierung des Bestehenden – wie mächtig es sich immer gebärden mag.

 

Befremdliche Geschichte

Versuchen wir, diesen Befund an unserem Thema durchzuspielen. Wir fragen nach dem Einzigartigen an der Bibel. Als moderne Menschen neigen wir wohl dazu, die Bibel als Geschichtsbuch zu lesen – direkt und indirekt: Weltgeschichte, Kulturgeschichte, Religionsgeschichte, Geschichte von großen Männern und großen Ideen – von alledem ist die Bibel ja voll! Doch wer gern bei den Höhen des Lebens verweilt, wer Ausschau hält nach Gipfelerfahrungen und Spitzenleistungen, kommt nur schwerlich auf seine Kosten. Wohl wird hier auch Nationalgeschichte erzählt – die Geschichte eines Volkes wie andere, doch irgendwie einmalig, befremdlich und rätselhaft. Gerade diese Geschichte zeigt sich nicht im Glorienschein – eher als Verfallsgeschichte voller Niederlagen und peinlichem Versagen. Ein kleines Volk, weltgeschichtlich unbedeutend, eingezwängt in Machtkonstellationen der Großreiche ringsum: Ägypten und Babylon. Und die Führer dieses Volkes sind auch im besten Fall keine Lichtgestalten, sondern mit allen menschlichen Makeln behaftet. Und – was vor allem Historiker frustriert –: diese Geschichte läßt sich nicht nacherzählen, nicht im Zusammenhang rekonstruieren. Sie zeigt sich – von unten gesehen – als Abfolge zufälliger Ereignisse, zusammengehalten nur durch das immer wiederholte Gott sprach. Vielleicht liegt ja hier, in der ständigen Aufmerksamkeit und Blickrichtung auf Gott, das Rätselhaft-Einmalige dieses Volkes? Jedenfalls: an dem, was moderne Menschen am meisten beschäftigt, an der Frage Warum? Wie kam es dazu? Was ist die Ursache dafür? sind die biblischen Erzähler offenbar kaum interessiert. Gerade die herausragenden Figuren: Abraham, Mose u.a. oszillieren ständig zwischen Historie und Sage, so daß sich sogar die Frage aufdrängt, ob es überhaupt historische Gestalten sind und nicht Erfindungen mythisch-kultischer Literatur. Für ein modernes Bewußtsein, das die Größe "Gott" in seine Rechnung nicht einstellen kann, ist die Bibel als Geschichtsbuch verwirrend bis ungenießbar. Auch als Literatur im neuzeitlichen Sinn muß die Bibel den kundigen Genießer enttäuschen. Als Ganzes wirkt sie extrem uneinheitlich, aus heterogensten Teilen zusammengestückt – ein riesiger Steinbruch, voll Rohdiamanten zwischen Fels und Geröll. Ergreifende Dichtung – (Josefserzählung, Saul-David-Tragödie, Hiob, Psalter und Hoheslied, die Konfessionen Jeremias, der Passionsbericht, die Legenden und Hymnen im Neuen Testament) steht neben trockener Aufzählung: Stammbäume, Chroniken, Rechts-Satzungen, endlose kultische Vorschriften u.a. Doch auch die dichterisch starken Partien wirken in sich uneinheitlich, weder stilistisch noch psychologisch durchkomponiert, modernen Kriterien der Ästhetik durchaus nicht genügend – nicht "Nobelpreis-würdig" in jedem Fall! Die verborgene Komposition des Ganzen (wie sie z.B. M. Buber erkennt), bleibt solcher Betrachtungsweise verborgen, weil sie ganz anderen Regeln gehorcht. Jedenfalls läßt sich das, was die Bibel zur "Heiligen Schrift" macht, weder auf dem Weg der Geschichtsforschung noch auf dem der Literaturwissenschaft ermitteln.

 

Mehr als Moral!

Eine andere Perspektive: viele sehen das Besondere der Bibel darin, daß sie Moral enthält, wohl gar die Quintessenz des Moralischen überhaupt! So ist ihr Wert ja oft propagiert worden und wird es noch heute. Auch wer sich von den mythologischen Vorstellungen längst verabschiedet hat, erweist doch dem "sittlichen Gehalt" der Bibel noch gern seine Reverenz. Immerhin: die Zehn Gebote stehen darin, das bis heute nicht überbotene Konzentrat moralischen Handelns, das Grundgesetz menschlicher Gemeinschaft, Minimalkonsens einer Welt-Ethik, auf die Menschen aller Kulturen sich einigen sollten! Viele, die sich gern als Atheisten oder Agnostiker outen, halten im "Du sollst" der Gebote einen Rest von unbedingter Autorität fest, etwas, das nicht mehr hinterfragt werden kann. Kommt das nicht dem, was wir "heilig" nennen, sehr nahe? Oder die "heiligen Männer", die uns hier begegnen: Heroen des Glaubens, der Frömmigkeit, der Geduld. Ausnahme-Menschen, Grenzgänger, exemplarische Beter, Dulder, Seher und Künder! Oder das "Ethos der Liebe" im Neuen Testament: Jesu Verhalten, die Bergpredigt, die Einheit von Reden und Tun, seine Hingabe bis zum Tod. Dann die Taten der Apostel, ihr Stehvermögen in Strapazen und Verfolgung, die Mahnungen und Lebensregeln in ihren Briefen! Immer noch spricht vieles dafür, die Bibel als Kompendium der Ethik, als Moral-Codex, als Wertetresor zu instrumentalisieren. Man kann und wird das immer wieder versuchen. Aber man wird dabei dem doppelten Einspruch begegnen, erstens daß gerade das Ethische in der Bibel nicht "einmalig" ist, sondern auf Schritt und Tritt vergleichbar mit Weisungen und Übereinkünften der Umwelt. Und zweitens, daß gerade die "Helden" der Gottesbeziehung oft ein Verhalten zeigen, das sie als Vorbilder eigentlich disqualifiziert. Was soll man von Abraham, der Symbolfigur für den Glauben Israels halten, der seine attraktive Frau der Begierde der Mächtigen preisgibt, um die eigene Haut zu retten? (1 Mos 12,10ff. und 20,1ff.) Der sich widerstandslos auf die absurde Zumutung einläßt, als Probe des Glaubens den eigenen Sohn zu schlachten? (1 Mos 22.) Was ist mit Jakob, der durch Betrug an seinem blinden Vater das Erstgeburtsrecht erschleicht? (1 Mos 27.) Wie bruchlos paßt David, der jugendlich strahlende Retter Israels, einmal zum König avanciert, ins Negativ-Schema eines orientalischen Potentaten! Und daß Elia, der große Prophet, nach dem Gottesurteil am Karmel 450 Baalspriester hinmetzeln läßt, wird überhaupt nicht moralisch bewertet, nur schlicht referiert (1 Kön 18,40). Gerade diese Geschichte hat moralisch sensible Zeitgenossen immer wieder empört. Der Theologe Gerd Lüdemann sieht in ihr (und in der Institution des "Heiligen Kriegs") ein eklatantes Beispiel für Das Unheilige in der Heiligen Schrift (so der Titel seines Buches von 1996). Wie immer man zu diesen Passagen der Bibel steht: eine Vorbildfunktion haben sie ganz gewiß nicht. Und im Neuen Testament? Läßt sich etwa die Gestalt Jesu als Vorbild verwerten? Eher wirkt er doch wie einer, der unsere moralischen Standards und Übereinkünfte über den Haufen wirft! Dessen "Rede auf dem Berg" eine Umwertung der Werte darstellt, die von keinem "Wertewandel" bisher eingeholt wurde! Ein Herrschaftswechsel wird hier angekündigt, der unsere moralischen Standards außer Kraft setzt. Eine "neue Welt", in der Zöllner und Huren eher Zutritt haben als die Glieder der "guten Gesellschaft". Wo der "verlorene Sohn" als Vorbild dasteht und nicht sein rechtschaffener Bruder. Aber eben diese Umwertung, dieser Herrschaftswechsel kommt dem, was die Bibel mit "heilig" meint, näher als alle Moral.

 

Mehr als Religion!

Wir wechseln noch einmal die Perspektive. Nahe liegend ist es ja auch, die Bibel als Buch der Religion zu würdigen. Wir sagten es ja schon: von Gott ist hier ständig die Rede. Er selber tritt auf als das eigentliche Subjekt allen Geschehens. Vom Verhältnis zu IHM handeln die meisten – indirekt wahrscheinlich alle – hier erzählten Begebenheiten. Also scheint Frömmigkeit ihr beherrschendes Thema zu sein. Die Bibel als Urkunde der wahren Religion! Was soll wohl ihr Inhalt sein, wenn nicht das? Tatsächlich ist sie ja voll von Religion: Mystische Erlebnisse, heilige Stätten, Opferfeste, Begehungen, Rituale begegnen auf Schritt und Tritt. Fasten und Feiern, Gebet und Gesang, Bekenntnis und Predigt – keine religiöse Haltung und Handlung ist denkbar, die nicht Platz hat in diesen Texten. Wir hörten es ja bei Martin Buber: Sie alle sind auf Offenbarung bezogen, von ihr her komponiert! Das alles ist es doch, was im Thema gefragt ist: das "Heilige"! Aber wir hörten auch, daß die Bibel vom "Heiligen" anders spricht, als es der homo religiosus erwartet. Nämlich so, daß diese Kategorie dem allein vorbehalten bleibt, auf den dieser ganze religiöse Zauber verweist! Heilig sind gerade nicht die Stätten und Handlungen selbst – und die agierenden Menschen schon gar nicht! Was sie allein können, wozu sie von Gott befähigt und ausgesondert werden, ist dies: mit allen Gebrechen und Mängeln ihrer Existenz Zeugnis zu geben von dem, der allein "heilig" zu heißen verdient. Zu diesen Mängeln gehört aber, daß dies Bezeugen auf religiöse Weise geschieht. Religion ist nicht Vorzug, sondern Mangel, eine defizitäre Angelegenheit. Auch das weiß die Bibel: Und darum hat Religionskritik in ihr das gleiche Gewicht wie die Religion selbst. (Denken wir an die Provokation der Propheten, an die Scheltreden Jesu und anderes!) Religiöse Rede und Praxis kann jederzeit umschlagen ins Gegenteil des Gemeinten: in Krampf und Perversion, nämlich dann, wenn der Hinweis für die Sache selbst ausgegeben wird, wenn so getan wird, als könne man im religiösen Vollzug des Göttlichen selbst habhaft werden. In dieser Gefahr steht Religion jederzeit: daß sie ihren Mangelcharakter vergißt und sich aufbläst zu eigener Macht und Bedeutung. Wenn sie nicht mehr weiß, daß unendlich Größeres auf dem Spiel steht als Religion: nämlich eine Zukunft, wo der Abstand zwischen Gott und Mensch, die Trennung zwischen "sakral" und "profan" aufgehoben ist, wo Religion sich erübrigt, weil ER "alles in allem" ist. "Reich Gottes" sagt die Bibel dazu. Daß es darum geht, macht ihre Besonderheit aus.

 

Der Name über den Namen

"Befremdliche Geschichte!" "Mehr als Moral!" "Mehr als Religion!" Mit diesen Abgrenzungen haben wir uns dem zu nähern versucht, was die "Heiligkeit" der Bibel bedeutet. "Heilig" heißt hier: Diese Urkundensammlung ist mit all ihren Mängeln in all ihren Teilen auf ein organisierendes Zentrum bezogen: auf den, der hier Gott heißt. Daß zu ihren Mängeln auch ihr menschlich-geschichtlicher Ursprung gehört, daß sie (mit Buber gesprochen) aus vielen und vielfältigen, ganzen und fragmentarischen Elementen zusammengewachsen ist, muß nach drei Jahrhunderten historisch-kritischer Forschung nicht mehr eigens betont werden. "Die literarischen Denkmäler einer vorderasiatischen Stammesreligion des Altertums und die einer Kultreligion der hellenistischen Epoche, das ist die Bibel." (So Karl Barth in einem Vortrag von 1920.) Das gilt uneingeschränkt auch heute. Daß die Bibel zugleich als Gesamt-Corpus auf Offenbarung verweist, steht dazu nicht im Gegensatz. Jede Art von Buch-Magie, von Inanspruchnahme der Bibel als "papierener Papst" ist auszuschließen. Eine Rückkehr zur Lehre von der "Verbalinspiration" kommt nicht in Frage – nicht nur, weil sie nicht durchführbar ist, sondern weil sie der Bibel selbst widerspricht. Verbalinspiration will die Heiligkeit des Schriftwortes sichern, indem sie das Historisch-Zufällige seiner Entstehung leugnet und in Richtung "historische Kritik" Denkverbote ausspricht. Damit beseitigt sie das Wesen der Offenbarung selbst, ihre Verborgenheit gerade im Menschlich-Geschichtlichen. Diese kann gar nicht radikal genug gedacht werden. Je tiefer unsere Einsicht in die Menschlichkeit der Schrift, umso kühner die Aufgabe, sie als Zeugnis von Gott zu lesen! Aber was heißt hier Gott? Alles, was bisher gesagt wurde, wird wieder aufs Spiel gesetzt, wenn "Gott" als Spezialfall einer Gattung begriffen wird, als ein Gott unter Göttern! Dann entscheidet ein Begriff des Göttlichen, ein Vorwissen über das, was Menschen für "göttlich" halten, darüber, wer hier zu uns spricht! Jedes Reden von Gott steht ständig in dieser Versuchung. Auch die Bibel kennt Namen für Gott, die eine Verwechslung mit heidnischen Göttern nicht ausschließen. (Elohim u.a.) Sie kennt aber auch einen Namen schlechthin, den Namen, der genau dieser Verwechslung widerstehen soll, bei dessen Nennung kein Zweifel mehr aufkommen darf, um wen es hier geht. Dieser Name wird im hebräischen Text nicht ausgesprochen, nur angedeutet durch die Buchstaben JHWH. (Die Herkunft dieser Kombination ist nicht restlos geklärt. Theologen sprechen vom "Tetragramm" und empfehlen, es wie "Jahwe" auszusprechen, was schon darum willkürlich ist, weil sich im Synagogengottesdienst das Aussprechen des Namens überhaupt verbietet. Der Vorleser ersetzt das Tetragramm jeweils durch ADONAI = "Mein Herr"). Das Auftauchen dieses Namens im Text wirkt als Signal, das sagt: Jetzt spricht der Eine und Unvergleichliche, der Heilige Israels, dein Freund und Erretter. Dieser Gott ist Name und nicht Begriff. "Gott ist ein Vokativ" (Karl Barth 1960). Bilder und Vorstellungen versagen hier. Wer er ist, erschließt sich nur im Gesprochensein, im Ereignis von Reden, Hören und Antworten. Mit dem namenlosen Namen entzieht er sich aller Beschwörung, bleibt frei gegenüber verfügendem Zugriff. (Ich werde dasein, so wie ich dasein werde. 2. Mose 3,13) Zugleich aber sagt er dem Hörer: "Ich bin anrufbar, bin für dich da!" JHWH ist der, zu dem Menschen DU sagen dürfen. Wieder Martin Buber hat in seiner Bibelübertragung dem Besonderen dieses Namens Rechnung getragen. Er verzichtet auf jedes Substantiv und ersetzt das JHWH durch Pronomen. Wo Gott redet, steht ICH und MEIN, wo er angeredet wird, DU und DEIN und wo von ihm geredet wird: ER und SEIN. Solche Sprachregelung gibt noch keine Gewähr dafür, daß Menschen von heute zur Lebendigkeit und Gesprochenheit der Bibel zurückfinden, daß sie sich der Anrede, die hier laut wird, auch aussetzen. Sie kann aber (wie Bubers Verdeutschung insgesamt) dazu helfen, daß sie sich ihrer Bibelentfremdung erst einmal bewußt werden, um dann vielleicht von falscher Vertrautheit und "niederschwelliger" Kumpanei zurückzufinden zu einem angemessenen Umgang mit der Bibel, der Distanz und Nähe, Heiligkeit und Menschlichkeit dieser Urkunde zugleich respektiert. Das ist das Heilige an der Heiligen Schrift, daß dieser Name in ihr laut wird. Wo das geschieht, werden Götter und Potentaten in ihrer Nichtigkeit offenbar. "Der Name JHWH entgöttert die Welt" (K.H. Miskotte 1963). Er befreit die Geschöpfwelt von zwanghafter Mythologisierung und führt sie zurück zu heilsamer Profanität. Er will seine Menschen vom Krampf religiösen Daseins entlasten. Wo Menschen ihr Maß nicht mehr kennen und sich wie Götter benehmen – wo man um jeden Preis "oben" sein will – jeder für sich auf seinem individualistischen Gipfel – da erniedrigt sich Gott, nimmt Wohnung unter uns, um das menschliche Maß wiederherzustellen. Dazu "heiligt" er sogar die höchst unzulänglichen menschlichen Stimmen der biblischen Schreiber – nicht zum "heiligen Buch", nicht zur "Drucksache", sondern zum lebendigen Wort.

 

 

 

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Stand: 19. Februar 2020

 

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